Geprägte Verse als Fünfheber
Kleiner Vorspann bei geschlossenem Vorhang:
Ein neu erworbenes Buch sendet bereits Signale aus, bevor man es aufschlägt. Die vierte Luchterhand-Ausgabe von Norbert Hummelt ist diesmal ein Hardcover-Band mit Umschlag. Im Vergleich mit den beiden ersten Sammlungen („Zeichen im Schnee“ 2001 und „Stille Quellen“ 2004), deren Äußeres mit dem umlaufenden Textzeilen-Band betont nüchtern wirkte, hat er eine fast erlesene Aura: der grau schattierte Titel auf zartfarbigem Schilfblätter-Hintergrund scheint auf einer Wasserfläche leicht zu schwanken, ebenso das Zitat auf der Rückseite „u. jeder/ von uns /träumt u. treibt/dahin.“ Das erweckt die Assoziation des träumerisch Verschwommenen, naturhaft Gefühligen – aber so kennen wir Norbert Hummelt gerade nicht. Er verwebt doch sonst allerhand handfeste Alltagserfahrungen in seine lyrischen Teppiche, mit Ortsnamen und konkreten Szenerien bis hin zu den kleinen Peinlichkeiten des bürgerlichen Lebens. Oder erwartet uns ein panischer Schrecken, wird der Ziegennasige, Bocksfüßige in der stillen Mittagsstunde mit seinem Schrei hervorbrechen? Hat er sich vielleicht resigniert, aber pfiffig, nachdem ihm die schöne Syrinx entwischt ist, aufs Flöteblasen verlegt? Jedenfalls, wer eine Gedichtsammlung „pans stunde“ nennt, gibt sich nicht postmodern, sondern deutet einen Zusammenhang mit unserem abendländischen Bildungshintergrund an. Dennoch sind schon hier seine Markenzeichen als minimale Abweichungen zu erkennen: die konsequente Kleinschreibung bis hin zu den Eigennamen (der Innentitel behält sie allerdings nicht bei) und das abkürzende „u.“. Es ist also wohl zu erwarten, dass er sich treu bleibt in seinem Eigensinn.
Beim Aufschlagen des Bandes (ich hab nicht geschummelt, Herr Hummelt!) bestätigen sich die Vermutungen insofern als drei Gedichte ausdrücklich auf den Pan-Mythos eingehen („pans stunde“, „mittagsdämon“, „pan im schilf“) und der Autor auch in dem kleinen Anhang mit Erläuterungen darauf hinweist. Ansonsten mag der Bezug in einem sehr weit gefassten Sinn gelten, indem nämlich mitten unterm Wahrnehmen von alltäglichen Dingen eine plötzliche Irritation hervorbrechen kann.
Die 60 Gedichte erscheinen aufgeteilt in 6 Kapitel, die verschiedene Erlebens-Bereiche lose umkreisen: Naturerscheinungen, Kindheitserinnerungen, Liebesbeziehungen, Erfahrungen von Tod, Angst und Grauen. Mehrmals bezieht sich ein Gedicht auch auf ein Werk der Bildenden Kunst.
Das Druckbild (und dieses ist dem Autor erklärtermaßen wichtig) ist seit früheren Arbeiten insgesamt ruhiger geworden. Zeilen in gleicher Länge, zum Teil in geschlossenen Blöcken, überwiegend aber in dreizeilige Strophen gefasst, die keine klassischen Terzinen sein wollen, aber vielleicht eine Reverenz vor der Tradition darstellen. In dem Luchterhand-Band „Wie Gedichte entstehen“ (Norbert Hummelt und Klaus Siblewski, 2009) erläutert er seine Abneigung gegen den losen Flattersatz: der Zeilenbruch werde oft nur zur gedanklichen Gliederung benutzt und lasse kein rhythmisches Gesetz erkennen. Zu dieser (bestreitbaren) These prüfe man seine eigenen Zeilenenden!
Gedichte lassen sich nicht referieren. Allenfalls kann man fragen: Was geschieht in ihnen? Was geschieht durch sie? Leichter zu beantworten ist die letztere Frage: Wir lernen einen Zeitgenossen als lyrisches Temperament und auch ein wenig privat kennen; es gibt ein deutliches Ich und hin und wieder ein diskretes Du. Wir beobachten einen Beobachter bei der Arbeit oder vielmehr nach erfolgter Verarbeitung seines Materials.
Was ist sein Material und was geschieht mit ihm? Er kann, wie wir alle, nur das eigene Leben verwenden. Hierbei ist aber der Grad der Bearbeitung, Reduktion oder Destillation sehr verschieden. Norbert Hummelt führt scheinbar sein ganzes Erzählgepäck samt den Alltags-Requisiten seiner Generation mit sich. Bilder oder Gedanken treten nicht isoliert auf, sondern eingelassen in den Wahrnehmungszusammenhang. Man könnte sagen, wie einzelne Brocken im Sichtbeton. Wo sie aber nicht einfach hineingefallen, sondern nach Auskunft des Autors sehr sorgfältig montiert sind.
Die Frage ist, ob man als Leser die Funktion solcher Zusammenhänge nachvollziehen kann. Müssen wir wissen, wo dem Dichter etwas aufgefallen ist: in Berlin, Köln, Zühlsdorf, Koblenz, Crossen, Niederbarnim, Bad Sulza oder Stuttgart, auf der Danziger Straße, der Prenzlauer Allee oder dem S-Bahnsteig, an Rhein, Spree oder Wupper? Offenbar ja. Hier fällt mir der Satz aus einem naturalistischen Manifest des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Karl Bleibtreu wetterte 1885 gegen den Singsang einer poetisch abgehobenen Gefühls- und Stimmungslyrik und verlangte von neuen Gedichten die Anbindung ans Konkrete. „Mondnacht“ - bah! „Mondnacht auf dem Müggelsee“ - wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein! Dies ist, was ich den Realismus in der Lyrik nenne.
Er hätte sich an Hummelts Realien gefreut.
Können die persönlichen Notwendigkeiten eines Autors Gegenstand der Kritik sein? Oder gibt es nur die Möglichkeit, entweder den „gefällt mir“-Button zu klicken oder sich achselzuckend abzuwenden? Mit dem Recht des Künstlers, sich wichtig zu nehmen, redet er in dem erwähnten poetologischen Band über seine Gedichte ausgiebig wie nur je eine stolze Mutter über ihre Kinder – über ihre Vorlieben und kleinen Unarten, wann sie die Masern hatten oder ihnen die Milchzähne ausfielen... Wir dürfen als Leser seinen Blick auf sich und seine Welt mitfühlend und nachdenkend teilen, aber, wenn es uns zu viel wird mit den privaten Befindlichkeiten, auch einmal Pause machen. Denn auch wenn man der Auffassung ist, dass grundsätzlich alles zum Material eines Gedichts werden kann, bleibt dem Autor die Entscheidung im Einzelfall nicht erspart. So vermittelt Hummelt überzeugend etwa die Schwebungen einer heiklen Paarbeziehung, die quälenden Wahrnehmungen einer schlaflosen Nacht oder, in dem Gedicht „der nachtmahr“, das mich schon im Jahrbuch der Lyrik 2008 (S.Fischer) sehr beeindruckt hat, die Todesangst einer kranken Frau. Wenn sich allerdings die Kastanien in der Danziger Straße falsch anfühlen, weil die böse Miniermotte die Bäume schädigt, fällt mir doch die kluge deutsche Redewendung vom Guten ein, dessen es auch zu viel sein kann. Die eigenen Stärken sind halt immer zugleich auch die eigenen Schwächen.
Ein interessanter Hauptpunkt ist immer der Klang eines Gedichts. Beim Lesen, vor allem beim lauten Lesen fallen sofort die gereimten und metrisch meist als Fünfheber geprägten Verse auf, ein weiteres Markenzeichen von Norbert Hummelt. Man ertappt ihn geradezu dabei, denn er versteckt sie, rammt sie schräg in Parlando-Passagen, aus denen man sie herauspräparieren müsste. Der Autor erklärt das damit, dass er den Reim als Motor erhalten, Schematismus aber vermeiden möchte. Abgesehen von der Frage, ob offen gereimte Verse bereits als Schematismus gelten sollen: es könnte auch der Eindruck entstehen, der Dichter würde eigentlich gern richtig losreimen, gestatte es sich aber nur in verfremdeter Form.
Eine kleine Montage soll sein Verfahren demonstrieren. In dem Gedicht „brombeerranken“ finden sich folgende Reimverse:
morgen war mariä himmelfahrt,
da leuchten die lila blumen so zart,
da blühen sie unter den brombeerranken
da hängen die früchte wie schwarze gedanken
Der Originaltext heißt so:
am letzten warmen tag im august ging ich noch einmal
den weg zur mühle. wo seinerzeit die rodung war, sah
ich den berghang wild überwuchert. morgen war mariähimmelfahrt, da leuchten die lila blumen so zart, da blühen
sie unter den brombeerranken da hängen die früchte wie
schwarze gedanken u. um mich ist wieder gewitterschwüle (…)
Manchmal glaubt man sich für Sekunden in eine Ballade der Droste versetzt – bis wieder der Schnitt fällt und den Vers zerteilt. Ob man nun die Reime als Rosinen im Kuchen oder als störende Steinchen im Schuh empfindet, ist Geschmackssache. Mich haben sie ab und zu gestört, wie ich rückblickend den Notizen meines Lese-Protokolls entnehme.
Kleines Nachspiel bei halb geöffnetem Vorhang:
Ist nicht der große Pan mit den Satyrn verwandt? Ein solcher jedenfalls, geschwänzt und mit listigen Äuglein, verschaffte mir die Gelegenheit, mit dem berühmten Dichter einen Spaziergang am Rhein zu machen und zwar bei Zons, wo ich selbst mich gelegentlich zu ergehen pflege. Wir stapften über Kiesel und Steinbrocken und schauten einem Containerschiff nach. Auf einmal blieb er stehen, schnupperte in die kalte Winterluft und bemerkte, das Rheinwasser habe gar nicht mehr den typischen Geruch aus seiner Kinderzeit. Das sei ja enttäuschend. Ich entgegnete, wenn es wärmer wäre und er die Nase näher ans Wasser brächte, würde er sicher doch etwas riechen, vielleicht nicht mehr den Chemie-Cocktail wie zuzeiten, aber ich könne mich aus meiner eigenen Kinderzeit, als ich im Rhein schwimmen lernte, noch ganz gut erinnern, dass er immer schon einen ausgeprägten Geruch hatte. „Vielleicht fehlt bloß eine Prise Sandoz?“ Wir lachten, ließen noch ein paar flache Steine springen und begaben uns auf den Heimweg.
Zuhause setzte er sich an den Schreibtisch, und nicht lange danach empfing eine respektvoll erschütterte Mitwelt das folgende Gedicht:
strom
wir standen bei zons. die frachter zogen. ich sog die luft ein
doch ich nahm nichts wahr. der rhein schien immer noch
das alte wasser, er war sehr breit u. schwoll noch weiter an.es lag gewiß nur an der winterluft, die kalt u. tödlich war für
jeden keim. mir fehlte die chemie, mir fehlte sandoz, denn
dieser fluß war früher doch mein heim. gut für die lachse, diebald wieder kommen, um ihre quellgebiete zu erreichen, sie
kennen stellen, wo sie immer laichen, doch die erinnerung ist
mir genommen, das gefühl ist nicht mehr da, weil dieser fluß inmeiner kindheit nie so sauber war. ich kannte den geruch der
braunen brühe u. sog ihn immer gierig ein, er war in meinen
strümpfen, an den schuhen, im anorak u. noch an jedem stein.nur noch die steine lagen nackt am ufer, kieselsteine, neben
muscheln. es war noch früh im jahr. ein vogel saß in einer
schwarzen eiche, der durch kein wort von uns zu stören war.
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