Lob der Kritischen Textausgaben
Als Band 15 der historisch Kritischen Ausgabe der Werke Paul Celans, die Bonner Ausgabe, sind Celans zu Lebzeiten veröffentlichten Prosaarbeiten und Reden unter dem lakonischen Titel Prosa I erschienen. Der Textkritische Apparat 15.2. übersteigt den Textband 15.1 um ungefähr das Doppelte, was daran liegt, dass er alle Versionen und handschriftlichen Anmerkungen Celans auf dem Manuskriptpapier verzeichnet.
Man könnte sagen, solche Unternehmungen wie kommentierte Gesamtausgaben sind etwas für die Akademiker unter uns, die um die Bedeutung eines Kommas feilschen, weil sonst zum Autor, der längst ein Klassiker ist, alles gesagt wäre. Aber: Der gelungene literarische Text birgt eine Unendlichkeit, und das ist die Unendlichkeit des Diskurses, den er in Gang setzt. Das heißt nicht, dass über jeden gelungenen Text ununterbrochen geredet werden muss, aber das heißt, dass er niemals abschließend interpretiert werden kann, weil er seiner Natur nach offen ist. Jeder gelungene literarische Text bildet so das Zentrum eines endlosen Gespräches. Und die Arbeit der Philologen feuert diesen Diskurs an. Liefert ihm Treibstoff, lässt seine Betriebstemperatur anschwellen. Vielleicht käme der Diskurs auch ohne das alles aus, aber die Arbeit der Philologen hat auf jeden Fall Einfluss auf seinen Rhythmus, ist Katalysator.
Und in meinem besonderen Fall hat eben dieser Band der kritischen Gesamtausgabe der Celanschen Werke dazu geführt, dass ich mich Celans Prosa erneut und in neuer Intensität gewidmet habe, nachdem ich seine Gedichte über Jahre hinweg sowohl mit Begeisterung gelesen, als auch, später, mit einem gewissen Misstrauen aus den Augenwinkeln heraus betrachtet habe. Aber gerade Celans Gedichte werde ich jetzt von neuem und neu lesen können. Vorab also schon einmal Dank an die Philologen und ihre unermüdliche Bergwerksarbeit in den Archiven.
Die Prosaarbeiten Celans nehmen eine kleinen Teil des Celanschen Werkes ein. Im vorliegenden Fall finden sie im Textband Raum auf gerade mal neunzig Seiten, und dieser Band beinhaltet noch dazu die Transkription Celans berühmten Radiovortrags Die Dichtung Ossip Mandelstams. Dieser Radiovortrag gehört zum Eindringlichsten, was in deutscher Sprache zu diesem bedeutenden Russischen Dichter gesprochen wurde. Vielleicht sind die Celanschen Übersetzungen der Mandelstamschen Gedichte keine erschöpfenden Versionen, denn was oben zum Diskurs angemerkt wurde, gilt auch für Übersetzungen, aber dieser Text, dieser Radiovortrag setzt eine neue (endlose) Kette frei.
Das Gedicht ist hier das Gedicht dessen, der weiß, dass er unter dem Neigungswinkel seiner Existenz spricht, dass die Sprache seines Gedichtes weder „Entsprechung“ noch Sprache schlechthin ist, sondern aktualisierte Sprache, stimmhaft und stimmlos zugleich, freigesetzt im Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gesetzten Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation.
Das lässt Celan Sprecher eins sagen. Aber natürlich erschöpft sich Celans Vortrag nicht in derart theoretischen Überlegungen. Jeder Abschnitt macht gewissermaßen einen eigenen komplexen Zusammenhang auf.
Den größten Raum im Kommentarteil nimmt Celans Rede zur Verleihung des Büchnerpreises an Ihn ein. Gehalten hat Celan diese Rede am 22. Oktober 1960. Und auch hier findet sich das in dieser Rezension eingangs erwähnte Motiv, mit einer Einschränkung. Denn das Theoretische findet im historischen seine Grenze:
Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch fünffüßiges, und – diese Eigenschaft ist auch durch den Hinweis auf Pygmalion und sein Geschöpf, mythologisch belegt – kinderloses Wesen.
In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die in einem Zimmer, also nicht in der Consergerie stattfindet, einer Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden könnte, wenn nichts dazwischen käme.
Es kommt etwas dazwischen.
Und dieses Etwas, der drohende, und der im letzten Jahrhundert reale Einbruch der Barbarei in unsere artifiziellen Welten, aber auch dieses heutige vor dem aktuellen Pegidahintergrund dräuende Etwas, zieht sich als Mal auch durch die künstlerischen Produkte und mithin durch die Diskurse, die sich daran anschließen. Als Zittern, kann man sagen, ist es noch in den Celanschen Satzzeichen zu spüren. Eben da, scheint mir, ist die Basis einer nicht enden wollenden Dialektik, einer Dialektik, die den geistigen Hintergrund zu Celans Aphorismensammlung Gegenlicht ausmacht.
Täusche dich nicht: nicht diese letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich selber vertieft.
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