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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Hüter und anderes

Hamburg

Zweifelsohne gehört der 1943 geborene Pete Dexter zu den beeindruckendsten und besten amerikanischen Autoren, die sich in jenem Feld tummeln, das man kaum noch als Krimi bezeichnen kann. Als Krimi gehen seine Romane gerade noch deshalb durch, weil sie einige der genrespezifischen Eigenheiten aufweisen – im richtigen Milieu spielen oder sich um Verbrechen drehen. Aber Dexter erweitert seine Texte derart ins allgemein Literarische, dass sie das Krimigenre weit hinter sich lassen. Nicht das Rätsel, nicht die Verschwörung, nicht die Ermittlung, nicht die Aufdeckung stehen im Vordergrund. Was allerdings auch nur noch für das Krimistandardprogramm oder die Nerd-Krimis noch von Interesse ist – mit wenigen Ausnahmen, die sich allerdings mit heuristischen Fragestellungen auseinandersetzen resp. mit ihnen ein intelligentes Spiel inszenieren.

Stattdessen interessieren ihn – auf eine verblüffend unpsychologische Weise – die Beziehungen seiner Figuren untereinander, ziehen Handlungen und das, was aus ihnen wird, seine Aufmerksamkeit auf sich. Das ist insgesamt ein sehr kontrolliertes und sparsames Konzept, das mit zahlreichen Lücken und Unausgesprochenen arbeitet – aber gerade daraus schlägt Dexter ungeheure Funken. Mit anderen Worten – „Unter Brüdern“ ist nichts weniger als großartig.

Zwar ist Dexters Werk insgesamt recht schmal geblieben. Auf nur sieben Romane kommt seine Produktion seit 1983. Einige Drehbücher kommen hinzu – das wars dann auch schon.

Aber jeder seiner Romane hats in sich. Und so eben auch „Unter Brüdern“, ein Text der im mafiösen amerikanischen Gewerkschaftsmilieu der Nachkriegsjahre angesiedelt ist.

Wie die meisten seiner übrigen Arbeiten ist „Unter Brüdern“ eher schmal geraten, eine kleine Geschichte, die er nicht zum Schmöker aufgebläht hat. Und das, obwohl er hier einen Zeitraum von über zwanzig Jahren umfasst, von der Kindheit seiner Protagonisten bis zu ihrem gewaltsamen und blutigen Tod. Der Mut zur Lücke, der lakonische Ton und die Fokussierung auf das Wesentliche, zu dem die feinen Nebentöne gehören, ist Dexters große Stärke – ganz untypisch im Übrigen für einen gelernten Reporter und Journalisten.

„Unter Brüdern“ erzählt die Geschichte von Peter und Michael Flood, die zwar gemeinsam aufwachsen und als Brüder gelten, aber eigentlich nur Vettern sind. Peters Vater verschwindet eines Tages, die Mutter ist da schon lange in einer psychiatrischen Klinik. Das Verschwinden des Vaters geht darauf zurück, dass er sich mit dem obersten Mafia-Chef anlegt und trotz dessen Verbot seinen Nachbarn tötet, einen korrupten Cop, der im Suff die Schwester Peters überrollt hat.

Peters Onkel Phil, der in der Dachdeckergewerkschaft Funktionär ist, zieht darauf mit seiner Familie ins Haus Peters, Peter lebt ab diesem Moment mit ihnen zusammen. Was Phil mit dem Tod von Peters Vater zu tun hat, bleibt unausgesprochen. Aber in dem Moment beginnt sein Aufstieg zum Chef der Dachdeckergewerkschaft, beginnt auch der Prozess, mit dem er sich der italienischen Oberherrschaft entziehen kann.

Es kommt zu massiven Auseinandersetzungen, zu Verdrängungskriegen unter den diversen kriminellen Akteuren, die eine neue Machtbalance suchen – und an deren Ende ist Phil der große Chef. Bis dahin gibt es eine Reihe von Leichen. Die Skrupellosigkeit der Akteure ist verblüffend. Aber Leichtsinn, mit dem sie sich fast ungeschützt bewegen, ist es nicht weniger. Sie scheinen sich in einer Aura der Selbstsicherheit zu wähnen, die sie als Sicherheit missverstehen, da sie trügerisch ist, wie die Anschläge zeigen, die auf sie verübt werden. Denn so wie Phil den alten Chef beseitigt, wird auch er beseitigt.  Die Macht beschützt, aber sie beschützt nicht auf Dauer.

Michael übernimmt diesen Posten von seinem Vater und baut ihn zu einem kleinen kriminellen Imperium aus. Er umgibt sich mit Schlägern, die allerdings kaum soweit denken können wie ihre Nase reicht – aber er zieht auch Peter als seinen Vertrauten an sich. Sie sind immerhin wie Brüder.

Dass die Lage eskalieren wird, ist spätestens mit dem Aufstieg Michaels zum Boss erkennbar – Michael ist von Beginn an das Gegenprogramm zu Peter. Feige, selbstsüchtig, faul, aber mit einem übergroßen Ego ausgestattet, dass jederzeit gefüttert werden will.

Peter hingegen erbt die Wortkargheit seines Vaters. Er beobachtet, er lernt, er lernt auch zu kämpfen – und er liebt den Schmerz, der mit dem Tod der kleinen Schwester allgegenwärtig geworden ist. Peter ist derjenige, der nachdenkt, der beobachtet und der abschätzen kann, was Handlungen bewirken. Er bleibt verschlossen, er spricht nicht viel. Und das was er tut, ist nicht immer nachvollziehbar: seine Neigung, von Dächern zu springen, die Duldsamkeit beim Boxen, wo er wieder und wieder vorgenommen wird.

Aber gerade das bringt ihn schließlich auf Distanz zu Michael, der eben nur die Bestätigung seiner Macht sucht und an nichts anderem mehr interessiert ist, als an ihrer Allgegenwart. Aus dem Hüter und Vertrauten wird der einzige, der Michael noch widerspricht – was zur Eskalation führen muss. Wen wunderts.

Dass sie allerdings zu jenem großartigen lakonisch-dramatischen Finale hinleitet, das Dexter inszeniert, ist nicht vorherzusehen. Selbst wenn, wäre das aber auch egal, denn Dexters Roman lebt aus sich heraus und treibt seine Leser vor sich her.

Die Brüder müssen und werden aushandeln, wozu ihre Väter die Grundlagen gelegt haben. Dabei wird Peter offensichtlich nicht davon angetrieben, Macht an sich zu ziehen. Ihm geht es um anderes. Hier wirkt ein archaisches Prinzip, das nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, und erst recht nicht mit Recht, sondern mit Balance. Um sie herzustellen, tut Peter alles, selbst wenn es Jahrzehnte dauern mag. Was naheliegend die Frage provoziert, was geschehen wäre, wenn Peter nicht von Michael zum Vertrauten herangezogen worden wäre. Aber das nur nebenbei – denn die Dexter lenkt seine Geschichte ja genau so.

Pete Dexter
Unter Brüdern
Aus dem Englischen von Götz Pommer
liebeskind
2015 · 304 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-95438-042-8

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