Der „Krebsschaden Europas”
Über Nationalismus wird heute gerne so gesprochen, als wäre er geschichtslos das Ressentiment der Modernitätsverlierer, denen eine skrupellose upper class als Blitzableiter für Aggressionen den Migranten ausliefert. Mag das wesentlich für die Gegenwart stimmen, ist doch zu differenzieren, wo es um seine Geschichte geht – auch, um einige jener, die Identitäre in Geiselhaft nehmen wollen, als im Widerspruch zu dem erkennbar machen zu können, was die Nationalisten unserer Tage zu tun gedenken.
Verdienstvoll und wichtig ist darum die kompetente, verständliche und oft brillant formulierte Einführung ins Thema, die Peter Alter kürzlich vorlegte. Nicht nur wird hier auf die lange Wiederkehr des Nationalismus hingewiesen, also Versäumnisse seit entsprechender Prognosen Mitte der 90er Jahre, sondern eben auch dessen Geschichte betrachtet.
Stets war der „Nationalismus in intellektueller Hinsicht im Grunde eine recht anspruchslose Ideologie”, früh ein fragwürdiges „Betäubungsmittel gegen soziale Ängste” und allenfalls subjektive „Geborgenheit” stiftend … anfangs immerhin aber auf eine Art demos ausgerichtet, der einen „egalitären Souverän” konstruiere; dabei sich auch schon mit den anderen Nationen austauschend, also nicht mehr eigentlich nationalistisch.
So ist der Übergang von Nation zu Abendland samt Philhellenismus folgerichtig, wobei die Fetischisierung von Abendland und Antike schon ansatzweise zeigt, was den Nationalismus selbst zum „Krebsschaden Europas” (Adenauer) machte. Es ist der nationalistische Populismus, der sich motivisch auch bei der extremen Linken leider findet, die gegen die da oben zuweilen ähnlich fragwürdig das Völkische ausspielt…
So sieht man schließlich, daß der Nationalismus aufgrund inkohärenter Politik verschieden auftreten kann: „Den Nationalismus als geschlossene Doktrin gibt es nicht”, dazu fehlt wie gesagt schon eine theoretische Fundierung, wo nur die die Unredlichkeit jener zu konstatieren ist, die ein Wir konstruieren, das begründet „im Unklaren und Ungefähren” bleibt. Das drückt sich noch darin aus, daß man, was so etwas wie Nationalismus ist, heute gerne Patriotismus oder Vaterlandsliebe heißt, wie Alter ausführt.
Dagegen einen Verfassungspatriotismus zu stellen, der nicht offensiv ist, sondern die Kultur begründet und Integration in den Staat ermöglicht, indem dieser grundsätzlich diskutierbar ist, ist ein Modell der 1970er und danach; es ist auch der Versuch, die Vokabel dem Pseudodiskurs extremer Rechter zu entziehen. Das Wir verändert sich dabei: Es wird klarer, es ist Ausdruck dafür, daß das Volk „Subjekt” und „nicht länger Objekt des politischen Willens sein” wolle. Dies freilich als Bemühen um alle, Demokratie als Protektorat derer, die dann (noch) nicht an diesem Status teilhaben, Differenzen dergestalt „überwölben(d)”.
Nation ist damit innerlich wie äußerlich Konstrukt, ein Gedanke spätestens des 19. Jahrhunderts. Und in Bezug auf Europa bedeute Nation Durchgang zur Einigung, die „europäische Konföderation” stammt als Idee aus dieser Zeit. Diesen durchaus „emanzipatorischen und liberalen Charakter” seiner Anfänge hat der Rekurs aufs Nationale inzwischen „nahezu völlig eingebüßt.”
So ist, wer heute Nationalist ist, Vertreter der dummen Ausrichtung innerhalb einer generell eher obsoleten Konzeption, „ein Rückschritt in der Geschichte der Menschheit” ist es, was er tun will – oder er gebraucht diese Dummheit für etwas, das anderen Zwecken dient, die nicht auszusprechen er gute Gründe hat. Noch die nationalistischen Denkmäler sind „Manipulation der Geschichte”, und zwar grundsätzlich, denen man dann wegen der Einfachheit der Narrative aufsitzen mag, derer man sich bedienen kann, die aber darum nicht wahr werden, und auch nicht aufrecht oder anständig, was immer an Kampfbegriffen Nationalisten eben vorbringen mögen.
So muß man Nationalisten aufklären – oder gegen sie aufklären, wie Jessen kürzlich in der Zeit darlegte. Die differenzierte Darstellung des Nationalismus ist auch bei Alter in sich Argumentation gegen diese traditionsreiche Widersinnigkeit. Dabei beschönigt Alter nicht, daß die Europäische Union bis heute eine „Baustelle” ist, sie hat gleichwohl ein „Potential”, wo die Chimären der Nationalisten eben dies niemals haben können.
Ein wichtiges Statement, trotz gerade einmal 190 Seiten faktenreich und vor allem differenziert wie auch klar vorgetragen.
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