Des Nachdenkens und des Nachfragens wert
Die kleine Serie neuer Gedichte ist nach dem Titel eines Gedichtes benannt, das eine programmatische Bedeutung für Engels Selbstverständnis als Lyriker hat. Er schildert darin zwei flüchtige Begegnungen mit dem seinerzeit tonangebenden Rundfunkredakteur und Verfasser von Texten, die so abstrakt avantgardistisch waren, daß man sie beim besten Willen nicht mehr Gedichte nennen konnte. Die Begegnungen blieben oberflächlich, die erhoffte Förderung blieb aus, sie war nichts anderes als eine Illusion, denn Heißenbüttel war der "Antipode" des Autors. Das Gedicht bestätigt ein weiteres Mal, wie sehr der Ruhm des apostrophierten Mannes inzwischen verblaßt und ins Negative umgeschlagen ist. Immerhin erinnert es an eine Zeit, als die Literatur ein vielbeachtetes, Maßstäbe setzendes Forum im Radio hatte. Davon kann heute wohl nicht mehr die Rede sein.
In zwei weiteren Gedichten zeichnet Engel Porträtskizzen vonSchriftstellern. In dem Bild von Ernst Weiß gibt er zu erkennen, daß erkeineswegs die düstere Mentalität des Romanciers teilt, dessen Werk er vor über zwei Jahrzehnten herausgegeben hatte; auch hatte er ihm eine Zeitschrift gewidmet. Er beklagt, daß Weiß inzwischen wieder verschollen ist und daß er daran nicht ganz ohne Schuld ist: er hat immer noch nicht seine Lebensgeschichte geschrieben. Die Klage ist in der gegenwärtigen Szene, wo die Literatur fast nur aus der biographischen Perspektive wahrgenommen wird, leider nur zu berechtigt. Engel hätte auch auf die Wirkung Kafkas hinweisen können, die sich in Biographismus zu verflüchtigen scheint. Ihm hat er ebenfalls eine Charakteristik gewidmet, die Beschreibung und Deutung eines Fotos. Darin findet sich eine Metapher von bedenklicher Kühnheit, obgleich man nicht
bestreiten kann, daß sie einen Aspekt namhaft macht, der für die Autorschaft Kafkas kennzeichnend ist:
Seine gekreuzten Beine
bilden ihn ab als ein X,
als die unbekannte Größe
seines Lebens als Schreiben.
Wenn Engel sich als Antipode Heißenbüttels vorstellt, bedeutet das keineswegs, daß er die tradierten Formen der Lyrik bevorzugen würde. Er vermeidet durchweg Endreime, verwendet aber gerne Alliterationen und Assonanzen. Es sind aber meist nicht die Wortfolgen, die kraft Lautwert und Rhythmus suggestiv wirken, sondern die beschriebenen Ansichten, die durch ihre Bildlichkeit wirken. Engel liefert erzählende und beschreibende Skizzen, seine Nähe zur visuellen Sphäre, zur kolorierten Zeichnung, ist unübersehbar.
Neben den drei Dichterporträts hat er mehrere Selbstbildnisse, Stilleben seines Arbeitsplatzes, Stilleben der Natur eingefügt, überdies als Pointe ein Klassenfoto mit Lücke, die Schilderung eines Lichtbildes, auf dem er selbst fehlt. Von den Erinnerungen an die Kindheit und südliche
Urlaubserlebnisse haben zwei Texte das Zeug, sich einzuprägen: der Schnappschuß von polnischen Sträflingen nach Kriegsende, die sich schleunigst nach Osten davonmachen, und die Liste der Götternamen, die allesamt zu kommerziellen Titeln degradiert sind, die Aura ihrer Herkunft aber noch nicht ganz verloren haben. Eher konventionell ist ein Gedicht aufgebaut, in dem das Schreiben durch die Arbeit eines Bildhauers illustriert wird. Der Text ist eine einzige ausgeführte Metapher. Die Schwäche dieser rhetorischen Figur ist aber die Langfädigkeit, die Vorhersehbarkeit, die sich nur durch phantasievolle Präzision vermeiden läßt. Weniger bedenklich ist dagegen Engels Vorliebe für substantivierte Farbprädikate, eine Neigung, die er mit einigen Wortführern der modernen Lyrik teilt.
Aus diesen poetischen Aufzeichnungen, die die Formen des Erzählens und Beschreibens bevorzugen, ragt das Gedicht Wunsch nach Schnee heraus, die Darstellung jener "kalten Anmut", die der Autor als Ideal im Sinn hat.Es wäre kaum angemessen, dem Gedicht sans phrase eine liedhafte Eigenschaft zuzuschreiben, doch ist seine rhythmische Qualität nicht zu verkennen. Es schließt mit den Zeilen:
Ein Zapfen Eis am Dachfirst
Wie ein zugespitzterer
Gedanke, der sich formt,
der klarer wird im Frost
und eindringt in mein Leben.
Wie die Strophe zeigt, nimmt Engel die größte stilistische Härte in Kauf, um zu sagen, was er zu sagen hat. Auch dies ist ein Grundzug nicht nur der modernen Lyrik, wenngleich einige ihrer Protagonisten ihn zur Manier gesteigert haben. Engel begnügt sich mit gelegentlichen
Abweichungen von der üblichen Rede, um anzudeuten, daß an Ort und Stelle etwas vorliegt, was des Nachdenkens und des Nachfragens wert ist.
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