An Eisblumen vorbei ins Offene
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Hölderlin
Dieses Buch ist ein Werk der Kunst und des Kunstmarktes mit minimaler Auflage (27 Exemplare). Im folgenden werde ich aber weder über die Illustrationen noch über die Beziehung von Bild und Text schreiben, sondern nur über die Gedichtreihe, die zweifellos einige Gedichte enthält, die es verdienen, in einem größerem Kreis bekannt zu werden.
Wie der Titel des Zyklus erkennen läßt, schließt der Band an die Sammlung Aus der Luft gegriffen (2009) an; von ihr ist auch das programmatische Eingangsgedicht "Im Ausguck" übernommen. Die übrigen Gedichte scheinen, soweit ich sehe, bisher unveröffentlicht zu sein. Engel variiert die Themen, die sich ihm aufdrängen. Es ist sicher nichts dagegen zu sagen, daß er immer wieder ähnliche Motive behandelt; was in der Malerei üblich ist, sollte in der Dichtung nicht verboten sein. Er überprüft immer wieder seine geistigen Bestände, setzt andere Akzente und betrachtet die Dinge unter einem neuen Gesichtspunkt.
Es ist für einen Lyriker ein wenig gewagt, einen Gedichtzyklus "Wolkisch lernen" zu nennen. Die Formulierung soll aber auch provozieren, was hier besagt, daß sie zum Nachdenken und Weiterdenken anregt — sicherlich nicht die schlechteste Wirkung, die ein Gedicht ausüben kann. "Wolkisch" erinnert zwar an "wolkig", einen Ausdruck, der meist dann einen üblen Beigeschmack hat, wenn er metaphorisch gebraucht wird; "wolkisch" leitet sich aber von der Sprache der Wolken her, und der Autor des Gedichts versteht sich als Leser der Wolkenschrift, wohlgemerkt als Leser, Entzifferer und Interpret der atmosphärischen Zeichen, nicht als Seher oder Deuter in jenem emphatischen Sinn, den epigonale Dichtergenerationen einst für sich in Anspruch nahmen. Ihre Erkennungsmarke war der hohe Ton, die feierliche Geste und der elitäre Anspruch zu wissen, was gewöhnliche Sterbliche nicht wissen können.
In Engels Gedichten ist nahezu das Gegenteil dessen zu finden, was Form und Gestalt jener Dichtungen ausmachte. Seine Texte sind nüchtern bis an die Grenze der schmucklosen Prosa, unpathetisch, manchmal in der Diktion so beiläufig, daß sie sich nur noch durch die isolierte Aufmachung von gewöhnlicher Rede unterscheiden. Kurzum, es sind Produkte unserer unfeierlichen Epoche. Nur zwei der zwanzig Texte weisen Endreime auf, bei den übrigen Gedichten besteht die poetische Form vor allem in der exakten Beschreibung, dem treffenden Wort für visuelle Beobachtungen. Was der Beobachter der luftigen Region, eine Metapher für den Gegenstand der dichterischen Phantasie, in immer neuen Gestaltungen abschildert, zeigt sich ihm im Rahmen eines Fensters und so liegt es für ihn nahe, das Gesehene als naturgegebene Gemälde zu betrachten und mit den Mitteln der künstlerischen Bildbeschreibung zu charakterisieren.
"Dezembervedute" heißt ein Poem dieser Art. Im Titelgedicht wird "der himmlische Tafelgrund" mit einem "Kondensstreifen" konfrontiert, was zunächst nur eine Beobachtung ist, bei näherer Überlegung aber doch auch als ein Ausdruck für die mißliche Lage verstanden werden muß, in der sich Kunst und Poesie befinden: in einer technisch entzauberten Welt.
Die meisten Gedichte geben die trübe Atmosphäre eines norddeutschen Winters wieder, mit kurzen Tagen, wenig Sonne, langen Dämmerungen, und viele Texte vergegenwärtigen nicht nur winterliche Eindrücke und die dadurch hervorgerufene Sehnsucht nach den sonnigen Landschaften des Mittelmeers, sie sind vielmehr zugleich poetische Reflexionen über das Handwerk des Schreibens in diesen poesiefernen Zeiten. Denn genau hier liegt das Problem, das ein Lyriker heute zu lösen hat: den rechten Ausdruck für jene Sehnsucht — oder für jede Art von Sehnsucht — zu finden, wo doch schon dieses Wort, das romantische Wort katexochen, hoffnungslos veraltet zu sein scheint.
Engel verzichtet keineswegs auf dieses Wort, doch verwendet er es in einer Zusammensetzung, "Sehnsuchtsblicke", die seinen Gefühlswert doch ein wenig herabstimmt. Erstaunlich ist, daß er auch auf ein anderes emphatisches Wort der Tradition nicht verzichtet: zweimal spricht er von "Seele" und beide Male geht es um das Ziel der dichterischen Wünsche. Die anspielungsreiche ältliche Vokabel ist hier natürlich ein fernes, kaum noch verständliches Echo der klassizistischen Maxime: das Land der Griechen mit der Seele suchend. Dazu paßt, daß der poetische Sprecher als Ziel seiner "Südexpedition" wie selbstverständlich "Ithaka" angibt, das Ziel der Irrfahrten des Odysseus.
Es ist eine unaufdringliche Anspielung, die freilich beim Lesen ausbuchstabiert werden muß. Wenn er im einleitenden Gedicht "vom Ausguck in neue Zeit" spricht, so hat man auch darin weniger eine eigene pathetische Formulierung zu sehen als vielmehr ein Zitat aus dem Wortschatz des Expressionismus, der eine Vorliebe für solche idealen Prägungen hatte. An anderer Stelle ist von "dem Meer der Erscheinung" die Rede, "das wie ein guter Himmel blaut". Der Gebraucht dieses Farbverbs erinnert natürlich an ein kleines, privates Gedicht von Gottfried Benn, der das Wort im gleichen Sinn verwendet. Engels Vers ist wohl als diskrete Verneigung vor dem berühmten Autor zu verstehen.
Soweit ich sehe, gab es zwei künstlerische Probleme, die in dem Zyklus zu meistern waren: es galt, das falsche Sehertum, das prätendierte Geheimnis, zu vermeiden, ein typisches Merkmal der Nachkriegslyrik — man denke nur an die Hervorbringungen Ingeborg Bachmanns. Auch galt es, die erworbene Routine des Schreibens, ein Erbübel der Lyrik zu allen Zeiten, zu umgehen. Nach meinem Eindruck hat Engel beide Probleme mit einigem Geschick gelöst.
Als Beleg lassen sich zwei Gedichte anführen, die aus der Sammlung hervorragen. Zunächst ein Text der reinen Naturbeschreibung ohne explizite Reflexionen: "Ozean am Firmament", ein Gedicht, in dem die genaue Beobachtung in fließenden Rhythmus umgesetzt ist. Dann "Eisblumenzeit", ein melancholisches Gedicht der Jugenderinnerung mit zwei Strophen, die am scharf erfaßten Naturschauspiel der Eisblumen, die recht unscheinbar sind und doch den Blick fesseln, Glanz und Vergehen des Schönen beschreiben. Ist es ein reiner Zufall, daß gerade jenes Gedicht, das ein Sujet beschreibt, das den meisten Lesern heute unbekannt sein dürfte, am meisten überzeugt? Nach meiner Ansicht ist es eines der besten Gedichte, die Engel gelungen sind.
Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben