Selfie mit Dylan
Ende der Sechzigerjahre sitzt ein Vierzehnjähriger in der Küche seiner neuen Adoptiveltern und lauscht wie gebannt einer Stimme aus dem Radio. Im Morgengrauen gehen Gedicht-Rezitationen des walisischen Dichters Dylan Thomas über den Äther, und dem jungen Peter sind in diesem Moment Keith Richards und Co. schnuppe. Das hier, das ist für ihn „gesprochener Rock’n’Roll“. Seit diesem Initialerlebnis ist Dylan Thomas für ihn Bruder, Freund – ja mehr noch, er ist sein Alter Ego.
Peter Wawerzinek, heute selbst erfolgreicher Schriftsteller, ist 1954, also ein Jahr nach Thomas‘ Tod geboren - und wie alle scheinbaren Synchronizitäten in beider Männer Leben ist auch dieser Umstand für den gebürtigen Rostocker ein „Zeichen“ von Bedeutung. Seinen Zwillingsbruder im Geiste so knapp verpasst zu haben, treibt ihn um – zumal die Parallelen so offensichtlich sind: Wie Wawerzinek liebte auch Thomas das Meer, die Natur, die Dichtung, den Alkohol. Freunde sagen ihm, er sehe sogar aus wie der Waliser.
Weitere skurrile Gemeinsamkeiten, wie etwa die Angst vor Hunden, kommen ihm während seiner Wales-Aufenthalte in den Sinn, von denen der im Wortreich-Verlag erschienene schmale Band „Ich – Dylan – Ich“ erzählt. Nach seiner ersten, schicksalhaften Begegnung mit Dylan Thomas sollten allerdings noch viele Jahre ins Land gehen, bis er die Heimat des Dichters besucht. Diese wird er dann wieder und wieder bereisen, zwar nie alleine, doch immer auf den Spuren seines „zweiten Ichs“, fast als stünde er unter einem Zwang.
An Dylan Thomas selbst wendet sich der Autor, redet ihn mit einem vertrauten „du“ an; da kann sich der Leser schon mal ausgeschlossen fühlen. Wawerzinek lesend an die Orte zu folgen, an denen Thomas weilte, schrieb, trank und sich mit seiner Frau Caitlin stritt und versöhnte, ist aber zweifellos spannend – zumal er bisweilen ein recht exzentrisches Verhalten an den Tag legt. Mit seiner Freundin reinszeniert er etwa den Alltag von Dylan und Caitlin in seinem Geburtshaus in Swansea, schläft in seinem Bett, lässt sich in Kleidung à la Dylan Thomas fotografieren.
Mit derselben Liebe zum Detail dokumentiert er seine Ausflüge in Pubs, die Thomas öfter frequentiert hat, als seiner Familie lieb war, zu seinem berühmten Boat House, der Schreibhütte am Meer, zu ihm gewidmeten Museen und Denkmälern. Und in Rhossili, New Quay, Swansea und Laugharne gibt es sie noch, die liebenswürdigen Einheimischen, die dem Deutschen mit ungespielter Begeisterung Anekdoten über den walisischen Nationaldichter erzählen. Biografische Infos über Thomas, über sich selbst – und wo genau ist die Grenze zwischen beiden? - webt Wawerzinek dann allerdings fast beiläufig in seinen Reisebericht ein; der akademische Stil ist seine Sache nicht. Das ist wunderbar, denn es macht seinen Zugang so erfrischend anders: Er rattert weder Jahreszahlen noch Publikationstitel herunter, sondern spinnt stattdessen romantisch-verklärte Mythen um Thomas und sich selbst, wie etwa den Mythos um den Raben, der ihn bei seinem Besuch im Ort Laugharne zum Grab des Dichters führt. „Ich folge dem Spuk“, so kommentiert er das lakonisch.
Denkbar, dass dieses Ausmaß an Exzentrizität den einen oder anderen Leser verschreckt, der Thomas erst hier, durch die Augen seines deutschen Zwillingsbruders kennenlernt. Ganz objektiv betrachtet sind der Waliser und seine „deutsche Ausgabe“ nämlich doch nicht so ganz ein und dieselbe Person. Aus Sicht des Bachmann-Preisträgers sind die Biografien der beiden aber untrennbar miteinander verwoben; andere Sichtweisen erlaubt er gar nicht erst, warum auch. Wawerzinek mag zwar ein wenig besessen von der Idee einer Seelenverwandtschaft mit Thomas sein - blind für die Unzulänglichkeiten des Walisers ist er deswegen noch lange nicht. Er geht erstaunlich hart mit dem Lyriker ins Gericht, der sich in seinen letzten Lebensjahren in Amerika hat gehenlassen: „seine besten Schriften sind im Schaum des Bieres steckengeblieben“. Da zitiert er plötzlich die anderen, da weicht das „du“ der distanzierten dritten Person. Dieser Sarkasmus trifft hart, doch durch Sätze wie diesem gewinnt das Buch an Balance, an Bodenhaftung.
„Die Leute sollten den leeren Raum mit ihrer Phantasie neu einrichten“, schreibt Wawerzinek an einer Stelle. Damit ist eigentlich Thomas‘ Schreiblaube gemeint, es trifft aber auch auf den Band des deutschen Autors zu. Der leere Raum, das ist die Abwesenheit der Fotos, von denen Wawerzinek laufend spricht, die neugierig machen auf die fremde Dichterheimat Wales. So aber muss der Leser seine Phantasie einsetzen, um sich den Autor vorzustellen, wie er am Dylan-Thomas-Denkmal in Swansea ein Selfie von sich und seinem Idol macht. Vielleicht ist das besser so.
Die große Stärke des Bandes mit seinen sehr kurzen 19 Kapiteln ist gerade seine Schlichtheit, vor allem die sprachliche. Klar und bodenständig wie ein guter Single Malt ist die Prosa des heute in Berlin lebenden Autors; im Schatten des international bekannten Dichters zu stehen macht ihn nicht unnötig demütig. Seine einfachen Sätze haben überraschende Wendungen, seine Syntax ist bisweilen recht eigenwillig. Daran ist wohl auch der walisische Rhythmus schuld, den er beim Schreiben noch in sich trug, wie er sagt.
Wer nachempfinden will, wie sich Wawerzinek als Teenager einst von diesem Rhythmus hat verzaubern lassen, braucht heutzutage natürlich nicht mehr vor dem Radio zu hocken, um die Morgensendung abzupassen. Sich via Internet die eine oder andere Rezitation von Thomas‘ eigenen Werken anzuhören, Knistern und schlechte Soundqualität inklusive, sei den Lesern von „Ich – Dylan – Ich“ daher unbedingt ans Herz gelegt.
Thomas‘ Singsang lauschend, versteht man dann auch Wawerzineks Begeisterung für die „Ikone der Vortragskunst“, die nach Meinung des Rezensenten anstecken und hohe Wellen schlagen sollte: Damit auch kommende Generationen Dylans Klippenlaube in Laugharne einen Besuch abstatten und sich beim Anblick der Gischt gedanklich in Thomas‘ Versen verlieren. In der rauen See, die daran liegt.
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