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Kritik

Am seidenen Faden

Über Hugo Simon und seine Familie. Eine Biografie von Rafael Cardoso.
Hamburg

Manchmal sind es Zufallsfunde, aus denen sich etwas ganz Großes entwickelt. Als Rafael Cardoso auf einem Schrank im Haus seiner Großeltern einen Karton mit Familienpapieren findet, misst er diesen nicht viel Bewandtnis bei. Der Autor, geboren 1964 in Rio de Janeiro, räumt den Karton achtlos weg, die Unterlagen sind in deutscher Sprache verfasst, die er nicht lesen kann. Erst ein Besuch einer Historikerin machen ihn darauf aufmerksam, dass diese Papiere spannendes Material enthalten. Cardoso lernt Deutsch, recherchiert die Hintergründe, die hinter dem vergilbten Papier stehen und kommt einem Mann auf die Spur, über dessen Leben (und dem seiner Familie) sich zu schreiben lohnt: Hugo Simon. Simon ist Rafael Cardosos Urgroßvater, war Finanzminister der Weimarer Republik, vermögender Bankier, Mäzen, Herr eines Mustergutes und Jude.

Im großbürgerlichen Haus von Cardosos Urgroßvater Hugo Simon (1880-1950) geht die intellektuelle Elite Berlins ein und aus. Albert Einstein, Samuel Fischer, Graf Kessler, Max Liebermann um nur einige zu nennen. Hugo Simon besitzt eine umfangreiche Kunstsammlung mit Werken der bedeutendsten Künstler seiner Zeit: Feininger, Grosz, Maler der Brücke und des Blauen Reiters. In seinem Besitz befand sich eine Pastell-Version von Munchs Schrei. Genau jenes Pastell, das 2012 bei Sotheby´s für 91 Millionen Euro versteigert wurde. Der bislang höchste Preis für ein Gemälde weltweit.

Bereits im März 1933 deutet Hugo Simon die Zeichen der Zeit richtig: Aufgrund seiner politischen Gesinnung (er war SPD-Mitglied, Sozialist und Pazifist) und seiner jüdischen Abstammung verließ er zusammen mit seiner Frau Getrud Berlin mit einigen Koffern in Richtung Schweiz. Die beiden gemeinsamen Töchter Ursula (Cardosos Großmutter) und Annette befanden sich bereits im Ausland.

Die Familie erlebt eine Odyssee mit Stationen in Paris und Südfrankreich. Es gelingt zwar Vermögenswerte und Teile der Kunstsammlung nach Frankreich zu transferieren, jedoch muss sich Hugo Simon Stück für Stück von seinen Gemälden trennen. Er unterstütze nach seinen Mitteln Exilkünstler und die Pariser Tageszeitung, Sprachrohr der anti-nationalsozialistischen Emigranten.

Als auch Frankreich unter der Vichy-Regierung nicht mehr sicher ist, nehmen die Familienmitglieder neue Identitäten an, da eine Ausreise in die Vereinigten Staaten nicht möglich ist. Hugo und Gertrud Simon heißen fortan Hubert und Garina Studenic und müssen sich mit gefälschten tschechischen Papieren ausweisen. Die Töchter und der Schwiegersohn Wolf Demeter (Cardosos Großvater) nehmen französische Namen an. Allen glückt -- auf getrennten Routen -- die Flucht nach Brasilien. Dem Bankier und Kunstfreund Hugo Simon gelingt dort nach, zusammen mit seinem Schwiegersohn Wolf, einem nicht sehr erfolgreichen Künstler, eine einträgliche Seidenraupenzucht, die die Familie ernähren kann. Familie Simon bleibt auch nach Kriegsende in der Exilheimat und kehrt nicht wieder nach Deutschland zurück.

Um die bewegte Geschichte seiner Familie zu erzählen, wählt Cardoso die klassische Form des Romans. Er begibt sich auf unterschiedliche perspektivische Standorte; meist berichtet er aus der Sicht Hugo Simons. Häufig ist das Geschehen auch aus der Perspektive der jüngeren Tochter Annette geschildert. Hier gelingt es dem Autor, die Empfindungswelt einer (zu Beginn des Romans erst 13-Jährigen) Teenagerin zu schildern, die -- kränkelnd und empfindlich – mit ihrem Dasein im Exil und in der Konkurrenzsituation zu ihrer verheirateten Schwester immer wieder hadert.

Rafael Cardosos Familien-Biografie setzt 1930 ein, einem Zeitpunkt, an dem Hugo Simon und seine Familie auf dem Höhepunkt ihres persönlichen und gesellschaftlichen Erfolges stehen. Die Handlung endet kurz vor Kriegsende, im April 1945.

Eingeflochten in das Romangeschehen sind die persönlichen Erfahrungen, die der Autor Rafael Cardoso auf der Recherche seiner familiären Herkunft machte. Neben zahlreichen Briefen und anderen Dokumenten, die er für seinen Roman auswertete und als Grundlage der Handlung nahm, fiel ihm auch ein Manuskript seines Großvaters in die Hände: Der Entwurf dessen unveröffentlichten autobiografischen Romans Seidenraupen.

Cardosos Familienroman Das Vermächtnis der Seidenraupen ist ein spannend zu lesender, nachdenklicher Roman. Er ist eine Hommage des Urenkels an seinen Urgroßvater und an eine „großartige Tradition“, nämlich „Europa als ein gemeinsames kulturelles Projekt zu denken“ und die „Welt aus einer kosmopolitischen Perspektive zu betrachten“. Der Roman ist auch ein Abgesang auf eine Zeit kultureller Blüte, die gemeinsam mit ihren Protagonisten von 1933 an ein gewaltsames Ende fand.

Hinterlegt ist der Roman von einem mehrseitigen Register der erwähnten historischen Figuren sowie einer umfangreichen Bibliografie

Das Vermächtnis der Seidenraupen ist Cardosos dritter Roman. In deutscher Übersetzung ist 2007 der Erzählband Sechzehn Frauen: Geschichten aus Rio erschienen.

Rafael Cardoso
Das Vermächtnis der Seidenraupen
Geschichte einer Familie
Aus dem Englischen von Luis Ruby
S. Fischer
2016 · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-10-002535-7

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