Kritik

Gegen die Vorstadt

Über die Frage, was ein deprimierender Vorstadtroman aus den amerikanischen Achtzigern mit der Musik von Lana del Rey zu tun hat; und über die sich anschließende Frage, warum das von Bedeutung ist.
Hamburg

"Cold Spring Harbor", Richard Yates' letzter vollendeter Roman, wie uns der Klappentext erinnert, ist in der Übersetzung von Thomas Gunkel bei der DVA erschienen. Falls dieses Buch einer jener Romane sein soll, die aus der Spannung zwischen Realismus im Einzelnen der Schilderung und Großmetapher im Allgemeinen der Figurenkonstellation heraus funktionieren - und dafür spricht, dass die Widmung

Für Kurt Vonnegut

lautet und das Eingangs vorgestellte Personal prototypisch bieder-amerikanisch ist - dann muß der Gegenstand dieser beabsichtigen Metapher höchst spezifisch für die "greatest generation" sein (Yates wurde 1926 geboren und starb 1992), denn ich verstehe sie nicht. Will sagen: Viel Typisches und Typologisches ist da versammelt, aber es fügt sich mir, über das Unmittelbare des Narrativs hinaus, nicht so richtig zusammen. Hängen bleibt vielleicht, als Symbolvigniette von Vergeblichkeit, wie der heranwachsende beinahe-Hooligan Evan Shepard, auf einer Insel lebend, an Automobilen herumschraubt (klar, in Wirklichkeit gibt es Brücken und Fähren, über die man samt Auto davonfahren kann, hinaus aus der Enge, aber so funktionieren symbolische Konstellationen nicht).

Was Yates uns vorführt, unterstützt von der unauffälligen, also gelungenen Übersetzung, ist der schlichte Umstand, dass es so etwas wie unverschuldetes Versagen gibt, dass Umstände ausserhalb der Kontrolle des Individuums jederzeit auch die sorgfältigsten Lebenspläne zunichte machen können. Aus dem Scheitern kleinbürgerlicher Karrierehoffnungen, das sich in "Cold Spring Harbor" mit der Unentrinnbarkeit des Ablaufens einer griechischen Tragödie mehrmals vollzieht, speist sich eine diffuse, ebenso unentrinnbare Angst, die dann das Dasein der vorgeführten Figuren hinterlegt. Diese Hoffnung, diese Angst und dieses aus ihr heraus motivierte sich-Bescheiden mit dem jeweils Vernünftigen, kühl Kalkulierbaren, das schon der Vater Charles Shepard seinem Sohn vorlebt, bilden erst zusammen das vorstädtisch-kleinbürgerliche Lebensgefühl, für dessen Schilderung Richard Yates bekannt war.

Die Prosa ist wohlgeschult-unaufgeregt, die Handlung deprimierend, der Erkenntnis- und/oder Lustgewinn für den deutschsprachigen Leser im Jahr 2016 minimal - was sollen wir also mit diesem Roman? O.k.: Es ist gut, dass er der Vollständigkeit halber vorliegt. Begrüssenswert auch, von einer Literatur zu wissen, die die Schrecken der Vorstädte schildert; die die verschüchterten Individualismen ausstellt, wie sie nur aus einem ungebrochenen Vertrauen der zu kurz Gekommenen in den Eigentumsbegriff erklärbar sind, aus einem Gesellschaft gewordenen Stockholmsyndrom ... Nochmal: Begrüssenswert, von einer solchen Literatur zu wissen, während dagegen die zeitgenössische deutschsprachige doch viel lieber die "gelungene Integration" ins kleine Glück abfeiert (wenn sie sich nicht gleich dem Glitzerkram von Aufstiegsmythen bzw. völligem Eskapismus ergibt).

Gleichwohl - also trotz meiner sozusagen "moralischen" Zustimmung zu "Cold Spring Harbor": Was soll ich, jetzt, heute, hier, mit diesem so grundlegend amerikanischen, die vierziger und achtziger Jahre, aber keinesfalls die Zeit dazwischen und danach betreffenden Buch?

...

Die sinngemäß gleiche Frage - "Was willst du denn damit?" - mit der ungefähr gleichen Tiefendimension (es geht um erzkleinbürgerliche falsche Hoffnungen, die doch eigentlich schon glücklich überwunden waren) stellte mir kürzlich ein Freund, da er beobachtete, wie ich die neue, ganz aktuelle Platte von Lana del Rey auflegte, von der es heisst, sie mache "Narco-Swing". Die Musik und das Artwork der Platte sind voll mit fünfziger-Jahre-Codes: Junge schöne Menschen leiden eleganten Herzensschmerz; die Spannung zwischen sozialer Sicherheit und asozialer Geilheit ist allgegenwärtig wie in "Cold Spring Harbor", wird aber klarer zur Schau gestellt; all die zu großen Eigenheime-mit-unbezahlter-Hypothek stehen knapp ausserhalb des jeweiligen Bildausschnitts herum, oder kommen eben in der im Lied verhandelten Geschichte gerade nicht mehr vor; die Sängerin und ihre Fotografen konzentrieren sich erstmal nur aufs Emotionale, "Echte", "Unentfremdete" - bzw. eben auf das, wovon sich die Protagonisten dieser Musik gerade noch, fälschlich, vormachen können, es wäre echt und unentfremdet. Der Umstand, dass dieses Zeug, diese Emotionen, diese kleinen Fluchten und verkrampft herbeigeführten temporären Entgrenzungen, eben genau nicht jenseits der Entfremdung, des Stumpfsinns, des prinzipiellen Scheiterns liegt bzw. liegen - dass die Angst NICHT besiegt ist - ist das eigentliche Thema dieser Lieder. Dass ihre Sängerin diesen komplexen Sachverhalt zu inszenieren weiss, und die Lieder dabei auch noch gefällig klingen, ist meine die Antwort auf die Frage, "was ich damit will".

Es wird Leute geben - gar nicht wenige, hoffentlich, auch wenn ich mich selber wie gesagt nicht dazuzählen kann - die ähnliche Antworten auf die Frage werden geben können, was sie Richard Yates' letztes Buch angeht: Der Erfolg von Lana del Rey legt nahe: Die Häuschen in der Vorstadt, die Vorstädte in den Köpfen, sie sind auch 2016 noch nicht überwunden.

 

 

 

Richard Yates
Cold Spring Harbor
Übersetzung:
Thomas Gunkel
DVA
2015 · 240 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-421-04610-9

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