Heim, in dem unser Fehlen haust.
Bei der Lektüre eines Lyrikbandes verhält es sich in der Regel so, dass man für sich schnell einige Favoriten innerhalb der gesammelten Gedichte ausmacht, einige Highlights findet, sein Lieblingskapitel hat und ansonsten, wenn es gut läuft, die übrigen Texte auch nicht so schlecht findet, weil sie entweder auf besagte Favoriten hier und da schon einmal verweisen, sie kommentieren, oder intentional jedenfalls nicht hinter diese zurückfallen.
Bei der Lektüre von „Rodung“, dem Debütband des zweimaligen Leonce- und Lena-Finalisten Sascha Kokot, stellt sich jedoch ein Phänomen ein, welches eher seltener vorkommt: nämlich, dass erst durch das Leseerlebnis des ganzen Buches sich sozusagen dieses Highlightgefühl nachträglich entfaltet, will sagen, das Lied mit all seinen Strophen will erst einmal zu Ende gehört werden, bevor es dann doch in seinen einzelnen Passagen schillert. Denn wenn man die Gedichte des Autors vereinzelt irgendwo liest, in Zeitschriften, auf Internetportalen, in Anthologien, wie zum Beispiel „Schließer“, das auch auf der Rückseite des Umschlags steht und vor kurzem als Poetryletter erschienen ist, dann reißen sie einen noch nicht unbedingt vom Hocker, man möchte sie mehr als Skizzen, als Appetizer zu etwas Größerem wahrnehmen, welches man aber eben jetzt mit „Rodung“ tatsächlich vor sich liegen hat.
Dass nur acht der insgesamt neunundsechzig Gedichte in dem achtundachtzig Seiten umfassenden Buch eine Überschrift tragen, stützt diese These etwas, man hat eher das Gefühl, ein Versepos oder Langgedicht durchzublättern, und möglicherweise gibt es auch deshalb nicht die Untertitelung „Gedichte“ auf dem Cover. Dort steht einfach „Rodung“, dreimal zwei Buchstaben untereinander (wie es momentan Trend zu sein scheint, um dieses berühmte Eyecatching auszulösen), in übrigens ästhetisch sehr ansprechender Gestaltung des Verlages „edition Azur“. Bei der ersten Betrachtung des Buchdeckels eröffnet sich zunächst ein Spielraum für Assoziationen: Die Radierung einer Flusslandschaft aus der Vogelperspektive? Oder vielleicht die Nahaufnahme eines Aktes, der Nackenansicht einer dunkelhaarigen Frau? Erst bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Bild als eine Art Abbau von Schiefergestein. Und dieses Coverbild verweist, stimmig kommentierend, direkt auf die Vorgehensweise und den Stil des Autors, der Schicht für Schicht, leise und in archaischer Manier, das Migrantenschicksal als solches facettenreich freilegt.
Eingeteilt in fünf Kapitel, quasi in fünf Zyklen („Als letzte Wärmequelle“, „Kapitale Blockstaaten“, „In sicherer Verwahrung“, „Westwärts wildern“ und „Das Fallen der Temperaturen“) wird von Kokot das Verlustgefühl von Heimat vermessen, die Odyssee der Moderne erzählt. Dabei sind die Stimmungen der fünf Abteilungen, bis vielleicht auf die vierte „Westwärts wildern“, deren cowboylyrischer kontrastierender Charakter aber eigentlich durch seine Ausweg- und Trostlosigkeit wiederum gerade auf die dann doch wieder obsiegende Kontrastferne hindeutet, sehr temperiert zueinander angelegt. Eben diese apathische Präsenz des Verhängnisses macht das Drama in den Gedichten, die Anwesenheit des Bedrohlichen, die Kokot inszeniert, so nachdrücklich:
am Hang im angewehten Schnee
halten sich meine Spuren in Deckung
aus der Schonung über das Bracheeis
enden sie auf ungewisse Dauer
das Jungwild bleibt auf Abstand
zieht sich schnell in die Bewaldung zurück
die einzige Kontur die sich ausmachen lässt
der Weg ist schon fort vor Minuten überblendet
geblieben sind am Turm der Stundenschlag
ein Hof in dessen Ferne eine Säge kreist
kein Ort zum Unterkommen
Dieses Gedicht bildet den Ausgangspunkt, die Eröffnung einer Heimsuchung, die stets im Hintergrund lauert und in ihrer Konsequenz dann für Ausweisung, Vertreibung oder Flucht sorgt, den Menschen zum „Schwemmholz seiner Herkunft“ nivelliert. Das Lyrische in diesen überaus gesellschaftspolitischen Versen liegt in deren geschickter atmosphärischer Unbestimmbarkeit des Katastrophalen, in ihrer archaischen Ausgestaltung: „diesen Brand haben wir selbst gesetzt / er zerrt an uns in immer gleichen Teilen / verbrennt die Hände am Werkzeug“ (Seite 11) oder: „in diesem Land blieb ihnen kein Schlaf / die Architekten gruben bis in die Nacht / Löcher in den Schuttboden der Wohnungen“ (Seite 23) oder: „der Himmel liegt in Fetzen / Häuser eng in Bombenlücken gestellt“ (Seite 25). Der Autor lässt hier eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten zu, was alles uns heimatlos machen kann: Ein Reaktorunfall wie der in Tschernobyl? Oder werden Ortschaften abgebaggert, wenn sich ein Tagebau auf besiedeltes Gebiet ausdehnt und daher Ansiedlungen aufgegeben werden müssen? Oder handelt es sich um Kriegsflüchtlinge? Oder um die Flucht aus einem Gefangenenlager? Um eine Naturkatastrophe? Oder spricht er vom Holocaust? „// noch bevor das Umstellen der Weichen verhallt war / trat das erste Tier auf den Asphalt / ein dreibeiniger Fuchs der nah am Gleisbett haust / gefolgt von einer in der Dunkelheit / nicht auszumachenden Masse“ (Seite 40). Es scheint gewollt, dass dies alles möglich ist. Dass er von alledem auf einmal spricht. Und es ist wohl auch gewollt, dass selbst die Lokalisation dieser „Rodung“ im Unbestimmten bleibt, weil sie überall stattfinden kann und immer öfter wohl stattfinden wird, durch Ausbeutung der Ressourcen, Klimawandel, Despotie. Das macht die Texte aktuell, macht sie zur lyrischen Sozialkritik, weg vom Elfenbeinturm. Ein wenig kann man das Setting zwar ins ländliche Osteuropa verorten, jenseits der Metropolen – vielleicht Ostpreussen? Vielleicht Weißrussland? Oder doch Thüringen? Insgesamt aber sind die Texte doch globalisierend angelegt: „das Fischauge rastet metallen in das / Gewinde ein bleibt nur der quadratische / Raum um uns zur Orientierung stehen / wir Hände haltend am Hang dort unten / kein Dreischluchtendamm das Land / ähnlich verwüstet rächt sich nun voll / ends am Menschen der zuerst die Sprache / verlor und jetzt zum Verrecken sehen / muss wie sich alles um ihn herum auflöst / mit Schwamm und Terpentin wird das / Bild aufgeräumt vom Überleben redet nie / mand mehr denn den altgriechischen Helden / schlugen wir schon zu Maos Zeiten in / Stücke und wir leben uferlos auf diesem / Ball und die Solaristik fragt sich wie wir / ihn lenken“ (Seite 58).
Die „Rodung“ des Landes erfährt im Fortgang des Buches allmählich eine Deutungsverschiebung hin zur „Rodung“ als „Entwurzelung“ des Menschen. Asylantentum („In sicherer Verwahrung“) und Exilantentum („Westwärts wildern“) münden schließlich in eine bleibende Entfremdung - wie eine Narbe: „du legst kleine stille Feuer im Heuwald / jeden Tag wächst das Narbengewebe / ein feiner Schliff wie Frost an den Rändern der Steine“ (Seite 78). Diese resümierende Verlorenheit, Entwurzelung im letzten Kapitel kann aber auf anderer Ebene auch als Heimkehr der Nachkommen gelesen werden, Söhne oder Enkel, die nichts mehr vorfinden vom Land ihrer Väter, wobei sich noch eine weitere Nuance in der Lyrik Kokots zeigt: Das Ungefähre, das Orientierungslose, das Nomadisierende, die Höchstgeschwindigkeit innerhalb des ausindustrialisierten Zeitalters, dabei die Reduziertheit und Isolation des nach Information dürstenden Einzelnen: Globalisierungsmerkmale, die hier mit den Mitteln einer ästhetisierenden, manchmal steampunkigen Archaik zur Geltung kommen, als schaute man einen Film wie „Stalker“ von Andrej Tarkowskij. Gern werden bei solchen Gedichten Attribute wie „irritierend“ oder „verstörend“ angewendet, weil sie atmosphärisch arbeiten und sich der Wertungen enthalten. Der Autor bevölkert seine Texte mit „Schließern“, „Heizern“ und „Jägern“. Es ist viel von „Katzen“ und „Rauch“, von „Werkzeugen“, von „Ruß“, „Moor“, „Diesel“ und „Frost“ die Rede. Eine Stimmung wird entwickelt, eine Kälte, die irgendwo zwischen elementarem Tannöd und endzeitlicher Zivilisation angesiedelt ist. Das „Wir“ und das „Du“ bleiben in den Versen genauso flüchtig wie die Orte und die Motive der Flüchtenden, der Verstoßenen und Vertriebenen. Durch diese leise Apokalyptik und die tonmalerische Zivilisationskritik haftet diesem Buch etwas „zeitlos-zeitgemäßes“ an, es wohnt ihm eine anwachsende – auch im Leser anwachsende - Empörung inne, die etwas Bleibendes hat.
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