Was nützt der richtige Ton wenn keiner zuhört?
Sibylle Berg, 1962 in Weimar geboren, hat sich spätestens seit ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“, das 1997 erschienen ist, einen Namen als Kulturpessimistin gemacht. Die bösen Kolumnen, die sie zunächst für das Zeitmagazin schrieb und die heute unter der Rubrik „Fragen Sie Frau Sibylle“ bei Spiegel online zu lesen sind, prägen ihren Stil und die Erwartungshaltung ihrer Leser.
In dieser Hinsicht überrascht der neue Roman „Vielen Dank für das Leben“ nicht.
Mit Toto hat Sibylle Berg eine Figur erfunden, die Pate steht für alle, „die sich den Anfeindungen aussetzen, die persönliche Freiheit mit sich bringt.“ Dabei hat Toto diesen Weg nie gewählt, vielmehr ist er die Inkarnation dieser Freiheit, nicht festgelegt durch ein Geschlecht, nicht festgehalten durch Menschen, die ihn lieben.
Bereits Totos Geburt gerät zur politischen Satire. „Was hier als Kommunismus praktiziert wurde, kam dem ruppigen Wesen der Hebamme sehr entgegen. Sie verachtet Freude und Ablenkung. Man hätte ihren Lebensentwurf zenbuddhistisch nennen können, aber diese Art von designten Religionsadaptionen wird erst später Einzug halten, in die bürgerliche Mitte des Westens.“
Toto, dem Namen nach nahe daran, alles zu verkörpern, ist ein Nichts, wie der Arzt nach einer unerfreulichen Geburt im kalten Sommer 1966 erklärt. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater unbekannt, das Geschlecht unbestimmt.
Wenig später bemerkt die Frau, die Toto auf die Welt gebracht hat, dass sie sich nicht daran gewöhnt „Besitzerin eines Babies“ zu sein und entledigt sich des Kindes, indem sie es in ein Kinderheim bringt. Frau Berg entsorgt sie noch im selben Kapitel, indem sie sie an einem Makrelenbrot ersticken lässt. Und weiter geht es mit Totos Lebenslauf, der immer auch die Geschichte der Zeit ist. Über ein Jahrzehnt lang muss der seltsame Junge, der zu groß ist, zu dick und zu sanft, im Kinderheim leben, abgesondert von den anderen und seltsam unversehrt von all der Grausamkeit, die er täglich erfährt. Hier taucht schließlich Kasimir auf, der Todfeind Totos, dessen Obsession für Toto ihn lebenslänglich begleiten wird. Eine Personifikation des Bösen, das sich nicht voll entfalten kann, so lange es noch Menschen gibt, die so gut sind wie Toto, diesem Wesen, „das über allem zu schweben [schien], was die Welt zu einem widerlichen Ort macht.“ Und nicht reagiert, sondern bei jedem Übergriff, versucht die Motive seines Angreifers zu ergründen. „Denn Toto glaubte daran, dass man alles verstehen kann, wenn man es nur lang genug betrachtet.“
Schließlich übergibt die Heimleiterin Toto im Rahmen einer zwielichtigen Transaktion an Zieheltern auf einem Bauernhof, wo statt Planwirtschaft Misswirtschaft herrscht. Auch hier empfängt Toto Schläge, ohne sich zu wehren. Er entschließt sich lediglich zu gehen und landet im Westen, wo Kasimir seine Spur aufnimmt. Toto wird zur Frau, reist ins Ausland, erlebt eine kleine Liebesaffäre, nach der sie unvermittelt im Gefängnis landet, die Katastrophen reihen sich aneinander und Toto macht einfach immer weiter, bis es nicht mehr weitergeht.
Zwei Talente stechen besonders aus Totos Leben heraus und sind darüber hinaus geeignet, sie glücklich zu machen. Sie hat keine Ansprüche an andere und ihr Leben, als anderen Trost zu spenden und ihren Teil dazu beizutragen, die Welt ein bisschen erträglicher zu machen. Und sie singt. Toto verfügt über das absolute Gehör und eine außergewöhnliche Stimme.
„Vor einiger Zeit hatte er begonnen, sich Lieder auszudenken, Melodien, zu denen sich Worte fanden, die ihn glücklicher machten, als hätte er Vorhandenes nachgesungen. Er wollte nichts mit seinem Gesang. Der Gesang war einfach bei ihm, er war etwas, das ihn nicht einsam sein ließ.“
Aber auch diese Talente können sie nicht retten, die Arbeit in einem Altenheim, in dem sie „die Gäste“ als Familie betrachtete und ihr Sterben geduldig und liebevoll begleitete, wird ihr gekündigt, jeder Versuch den sie mit ihrem Gesang unternimmt, scheitert. Jedes Mal, wenn Toto singt, rührt sie die Zuhörer und genau das scheint ihr zum Verhängnis zu werden. In einer Gesellschaft, in der die Menschen Angst vor ihren Gefühlen haben, in der alles nur funktionieren muss, verunsichert ihr Gesang und erzeugt Emotionen für die man Toto hasst.
In dieser Mischung aus Märchen, Endzeitszenario und Gesellschaftskritik ist Toto eine, die den richtigen Ton, aber nie Gehör findet. Ein geschlechtsloser Engel, der ebenso gut beobachten kann, wie seine Autorin Sibylle Berg. Was ihr im Gegensatz zu dieser fehlt, ist die Wut, mit der Sibylle Berg die Ungeheuerlichkeiten, in denen wir uns längst eingerichtet haben, bloßlegt. Ihr bleibt nur ihre Stimme. Wunderschön, aber unerhört.
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