Auftakt
In Brechts Svendborger Gedichten, jenem im dänischen Exil entstandenen Zyklus, findet sich unter anderem ein Text mit dem Titel: Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. Es beschreibt, wie der Weise sein Wissen und seine Habseligkeiten zusammen sammelt und sein Heimatland verlässt, in welchem das Gute wieder einmal schwächlich war. Ein Zöllner nötigt ihn an der Grenze, sein Wissen aufzuschreiben. Das Gedicht endet mit folgenden Versen:
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
Die im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erscheinende und von Alexander Emanuely, Konstantin Kaiser, Lydia Mischkulnig und Herbert Staud herausgegebene Reihe Nadelstiche startet mit Texten von Siglinde Bolbecher. Lydia Mischkulnig sagte in ihrer Rede zur Präsentation der ersten beiden Bände: Damit werden Zugänge zu Lebenswerken ermöglicht und dem Vergessen entrissen Konstantin Kaiser schreibt: „Die Lyrik ist vermutlich die wichtigste Gattung für Verfolgte, Flüchtende, Exilierte, Widerstehende.“ Die Reihe widersetzt sich der „Marginalisierung der Poesie im Literaturbetrieb“. Gedichte aus dem Exil und um das Exil werden geborgen.
Der erste Band heißt also Nadelstich und gab damit der ganzen Reihe den Namen. Es handelt sich dabei um eine Würdigung und Verneigung vor der im Sommer vergangenen Jahres verstorbenen Autorin. Siglinde Bolbecher ist 1952 in Wien geboren. Das Buch ist ein spätes Lyrikdebut. Ein schmales Werk, das ich an einem Abend und in einer Nacht las. Texte, für deren Bergung ich dankbar bin.
Ich zitierte eingangs die Verse Brechts, weil ich glaube, dass es sich bei Siglinde Bolbecher um einen solchen Zöllner handelt. Einen Großteil ihres Lebens verschrieb sie der Dokumentation, der Aufarbeitung und Bewahrung der Werke österreichischer Exilanten während der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus. Ohne ihre unermüdliche Arbeit wäre vermutlich einiges mehr verlorengegangen. Ein Dokument dieser Arbeit ist das wunderschöne Nachwort im zweiten Band der Reihe, der Gedichte von Trude Krakauer enthält. Davon aber an anderer Stelle.
Worauf ich hinaus will ist, dass die Arbeit des von Brecht angeführten Zöllners sich nicht darin erschöpft, dass er dem Weisen sein Wissen abverlangt, sondern dass er sich in dieser Tätigkeit auch selber vervollkommnet oder auch aller erst hervorbringt und das Zöllner-hafte zugunsten der Weisheit des Zöllners zurücktritt. So ist neben dem umfangreichen Katalog von Arbeiten Bolbechers zur Bewahrung des Werkes der Emigranten eine Reihe von Gedichten entstanden, die ein eigenständiges Wahrnehmen geradezu beanspruchen.
Es handelt sich zum Teil um sehr persönliche Texte, als wollte die Autorin sich darin eines Raumes versichern, der nur der ihre ist, ein Raum in dem sie ungeschützt der Einsamkeit und dem Schmerz Ausdruck verleiht, aber auch der Lust an der Sprache. Texte, die in ihrer Dringlichkeit weit übers Persönliche hinaus reichen.
Als Beispiel dieses Changierens zwischen Leichtigkeit und Ernst sei hier das Gedicht Paradoxe Erinnerung angeführt.
Paradoxe Erinnerung
Beim Abschied bebte zwischen
dem Aug und der Nasenwurzel
ein Kuß
Er sprang von deinen Händen
auf Schultern und Hals
entkommen dem weichen
verschlossenem Mund
An mich kann ich
mich nicht erinnern, dich jedoch
spüre ich wie jetzt
In der Einfachheit der Texte Bolbecher liegt ihre Stärke und das Werk scheint mir ein schmales, weil die Gedichte sich im Kopf der Autorin gewissermaßen von selbst verfertigten und erst dann ans Tageslicht und aufs Papier kamen, wenn eben jene Dringlichkeit es verlangte. Eine Gelegenheitslyrik gewissermaßen, die aber nicht auf die heitere Besinnlichkeit eines Moments abzielt, sondern auf den titelgebenden Nadelstich. Vielleicht sollte man auch von Eruptionen sprechen, von Gedichten, die ein Leben außerhalb der Lyrik erst ermöglichen. Den Band beschließt ein Text von Konstantin Kaiser anlässlich der Verabschiedung Siglinde Bolbechers am 3. August 2012 und in dem es heißt:
Was du anstrichst in den Büchern
bedenke ich
Anm. der Redaktion: Wir empfehlen Ihnen die Rede von Lydia Mischkulnig "Nadelstiche" zur Präsentation einer Lyrikreihe im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft auf Fixpoetry zu lesen und bedanken uns bei der Theodor Kramer Gesellschaft für die Möglichkeit der Veröffentlichung.
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