Perspektiven
Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. (Friedrich Schiller)
Dies ist ein Zitat aus jener großartigen Ausgabe 242 der Zeitschrift „die horen“, die 2011 unter dem Titel Bei betagten Schiffen / Islands „Atomdichter“ dem damaligen Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse gewidmet und von Eysteinn Porvaldsson & Wolfgang Schiffer zusammengestellt worden war. Die Begriffe „Individualität“ des Dichters und „wert sein“ können gewiss Anlass für kontroversielle Diskussionen werden. Aber dieses Konzentrat höchst individueller Schreibweisen ermöglichte mir, die ich von isländischer Literatur recht wenig Ahnung hatte, auf knapp 400 Seiten einen Einblick in die Bandbreite des dortigen schriftstellerischen Schaffens und bot eine so interessante wie anregende Lektüre.
Oben angeführtes Zitat passt für mich genauso gut für die nun vorliegende Ausgabe 263 mit neuen Texten aus Flandern und den Niederlanden, dem diesjährigen Ehrengastland, die Stefan Wieczorek zusammengestellt hat. Ich halte die vorgestellte Bandbreite des individuellen dichterischen Schaffens für genauso großartig, die Lektüre – mit einer Ausnahme, die noch erwähnt werden wird – für genauso anregend und bereichernd wie jene des „die horen“-Islandheftes. Wobei der deutlich geringere Umfang sofort auffällt, denn es sind diesmal nur rund 235 Seiten Literatur, was gewiss nicht an den Schreibenden liegt, denn die schriftstellerische Landschaft Flanderns und der Niederlande ist weit, vielfältig und reichlich tiefgründig.
Bojen und Leuchtfeuer seien Wegmarken und Wegweiser, schreibt Wieczorek in seinem Vorwort, die „in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren“ (zit. nach Günter Eich). Solch wegweisende Gedichte, Erzählungen und Kurzgeschichten habe er in diesem Band versammelt. Gar so unbekannt ist diese „Fläche“ natürlich nicht, denn seit 1993, als Flandern und die Niederlande zum ersten Mal Ehrengastländer der Frankfurter Buchmesse waren, haben Hugo Claus, Anne Enquist, Leon de Winter, Connie Palmen und viele andere niederländischsprachige Schreibende auch hierzulande Erfolge mit ihren Büchern errungen und es gibt, so Wieczorek, kaum eine andere kleinere Sprache, die in der Breite derart präsent auf dem deutschen Buchmarkt ist wie die niederländische. Warum dann dieses Sonderheft, könnte man fragen. Die Antwort ist simpel: Weil viele lesenswerte Texte nicht oder noch nicht den Weg in die deutsche Sprache gefunden haben und ein Ehrengastlandauftritt eine gute Gelegenheit bietet, bisher wenig beachtete AutorInnen in den Vordergrund zu rücken, auch randständige und sperrige, bisher wenig beachtete Literatur zu übersetzen und das Augenmerk auf vielversprechende junge Schreibende zu lenken.
Gelungen ist dem Herausgeber eine beachtliche Kollektion vielfältiger Beiträge aus Flandern und den Niederlanden, aus Gedichten und Prosa, Texten junger und älterer SchriftstellerInnen. Wieczorek gliedert die Beiträge in 7 Themenfelder und 8 Kapitel. Eingestreut sind Originalbeiträge deutscher AutorInnen, die zu und über niederländischsprachige KollegInnen schreiben. So lesen wir zum Beispiel einen fundierten Text des Dichters Jürgen Nendza zu seinem Kollegen Frans Budé und dessen Werk; einige Bemerkungen Jan Wagners zu den Gedichten von Maria Barnas; einen Essay von Norbert Scheuer u.a. über den niederländischen Dichter Erik Lindner; und einen kurzen Beitrag von Karen Köhler zur niederländischen Dichterin und Erzählerin Kira Wuck.
Aus Platzgründen können nicht alle Beiträge im Rahmen einer Rezension vorgestellt werden, weshalb ich mich hier auf eine kleine Auswahl beschränke, die sich an den Kapiteln orientiert, um einen Einblick zu ermöglichen:
Im ersten Teil wird, so Wieczorek, in elf Beiträgen ein Panorama der „Lage Landen“ entworfen. In der Erzählung „Alphabet“ des flämischen Autors Leo Pleysier (geb. 1945) versucht ein Sohn, mit seiner Mutter, die am Locked-In-Syndrom leidet, über die einzelnen Buchstaben des Alphabets zu kommunizieren, die er herunterbetet und die sie jeweils mit ihrem Lidschlag auswählt, da sie sich nicht anders mitteilen kann. Es ist ein berührender Text über Krankheit und Todesangst, der mich an das wundervolle Buch „Schmetterling und Taucherglocke“ (Zsolnay Verlag 1997) von Jean-Dominique Bauby erinnerte, das dieser nach seiner Erkrankung einer Kollegin allein mit dem antwortenden Blinzeln eines Augenlids diktierte.
Erwähnenswert ist auch der flämische Dichter Max Temmerman (geb. 1975), der mit einer Auswahl aus seinen drei Lyrikbänden vertreten ist. Die Gedichte sind feine Beobachtungen des Alterns, von Heimat und Lebensweisen und schenken dabei manch überraschende Formulierung. In „Topografie“ lesen wir zum Beispiel (in der Übersetzung des Herausgebers) den Satz:
Jeder Baum ist die Ardennen und der volle Klangkörper eines Laubwaldes.
Im Gedicht „Alte Belgier“ blickt der Dichter auf alternde Männer, die genauso auch alte Deutsche oder Österreicher sein könnten:
... Ein ganzes Leben haben sie gearbeitet,
und auch jetzt noch harken sie täglich die Auffahrt,
den hellblauen Kies, der nie liegt, wie er sollNachts klauen sie Kupferdraht aus dem Garten der Nachbarn,
aber wenn der Morgen sich wie ein gebrauchter Diesel auf Touren gluckert,
hörst du ihre mündliche Überlieferung in der Schlange beim Bäcker.
Ihre Autos. Frauen. Die Begabungen, die sie hatten. ...
Und im Gedicht „Diesel und Gold“ lesen wir einen sanftironischen Seitenhieb auf Vegetarier:
... Wir leben tagelang ohne Fleisch
köcheln vor uns hin auf Algen und Lauch. ...
In seinem Essay „Die Kunst des Lesens“ (Übersetzung: Ingrid Ostermann) beschäftigt sich der niederländische Romancier P.F. Thomése (geb. 1958) genau damit. Jedes Buch brauche den Leser. Man solle sich also nicht fragen, was uns das Buch gebe, sondern vielmehr, was haben wir dem Buch zu bieten, was bringen wir mit und was stecken wir in ein Buch?
Denn Lesen bedeutet, einem Text Antwort zu geben. Eine Antwort jedoch, die man alleine nie gefunden hätte. Es ist ein Zusammenspiel, eine Improvisation, bei der der Leser einmal diesen, und dann wieder einen anderen Weg einschlägt, ohne zu wissen, wo er landen wird.
Das zweite und sechste Kapitel ist „Graphic Poems“ gewidmet, 15 grafisch umgesetzten Gedichten, die alle ursprünglich aus der niederländischen Poesiezeitschrift Awater stammen. Der Dichter Thomas Möhlmann (geb.1975) ist einer der Redakteure dieser Zeitschrift und führt uns in seinem Text „Wenn aus Gedichten Comics werden ...“ in das Zusammenspiel von Gedicht und Comic ein. Es handle sich um eine so genannte „Gedichtverstripping“, also ein Graphic Poem, das Worte ins Bild bringt, indem es ein Gedicht in einen Comic transformiert. Die Ergebnisse sind ganz unterschiedlich, mal schwarz-weiß, mal bunt, mal mit spielerischem Witz, dann wieder todernst, mit oder ohne Referenzerweisung, mal das ganze Gedicht zitierend, mal reine Illustration, die ohne ein einziges Wort auskommt. Allein dafür lohnt es sich schon, einen Blick in die aktuelle Zeitschrift zu werfen!
Das dritte Kapitel präsentiert Texte zu und über Berlin. Hier lesen wir in der Übersetzung von Stefan Wieczorek sieben fein gearbeitete Haiku der Lyrikerin und Übersetzerin Anneke Brassinga (geb. 1948) zu Bildern und Bildausschnitten von Berlin, z.B.:
Potthässlichste Stadt,
die mich lehrte, Hässliches
zu lieben (wie schön!)
Erlesen auch der Text „Im Garten der Bilder versteinert“ (Übersetzung: Carina Becker) von Mirjam Rotenstreich (geb. 1959), der von einer Reise ins heutige Berlin auf den Spuren des jüdischen Vaters und hinter die Mauer seines Schweigens erzählt. Daneben ein Berlin-Zyklus von Maria Barnas (geb. 1973) und Gedichte von Erik Lindner (geb. 1968).
Das vierte Kapitel „Sex ist eine Party, zu der ich nie eingeladen werde“ trägt den Zusatz „Ein Zwischenspiel“, womit auch schon alles über die vier leicht lesbaren Prosatexte gesagt ist.
„Welcome – Flucht und Migration“ ist der Titel des fünften Kapitels, das sechs verschiedene Lesarten zum Thema präsentiert. Hervorheben will ich die Beiträge von Rodaan Al Galidi (geb. ca. 1971 im Irak, das genaue Geburtsdatum ist unbekannt), der 1998 in die Niederlande kam, neun Jahre lang im Asylverfahren ausharren musste, während dieser Zeit weder arbeiten gehen noch die Schule besuchen durfte und sich die Sprache auf der Straße selbst beibrachte. Er publizierte bisher Prosa und Poesie, darunter mehrere Gedichtbände. In „die horen“ aufgenommen wurde der Text „Selbstporträt fremder Hand“ (Übersetzung: Carina Becker), in dem der Autor in der er-Form einen biographischen Abriss seines Lebens nachzeichnet:
Seine ersten Bücher dachte er auf Arabisch und schrieb sie auf Niederländisch. Nach und nach dachte er mehr in der Sprache, in der er schrieb, die Sprache der Menschen, die seine Bücher lesen mussten. Inzwischen denkt er auf Niederländisch und schreibt auch seine Bücher und Gedichte in dieser Sprache. Völlig niederländisch wird er nie werden, sein Stil bleibt irgendwie „unholländisch“.
Und über die Entstehung seiner Gedichte gibt er folgende Auskunft:
Wenn er Gedichte schreibt, fängt er mit langen Gedichten an, die nur so aufs Papier fließen. Das ist leichte Arbeit: ein Sturm, der in seinem Kopf rast und auf dem Papier landet. Danach kommt die schwierige Arbeit: alles so in ein paar Sätze zu verwandeln, dass der Leser denkt: oh, wie simpel. Er baut ein Gedicht auf und bricht es danach auf ein paar kleine, funkelnde Verse herunter. ... Er nennt sich selbst keinen Dichter, sondern jemanden, der Poesie schreibt und liest, und lieber noch, jemanden, der den ganzen Tag der Poesie hinterher jagt.
Das Ergebnis seiner Jagd wird mit mehreren Gedichten belegt, die u.a. durch den Blick von außen überzeugen, seine Herkunft reflektieren oder das Wesen der Niederländer beschreiben, die reich genug seien, sich einen Psychologen leisten zu können, da sie müde, verbraucht und kaputt seien.
Nicht vom Reichsein,
sondern vom Reichbleiben.
Kira Wuck (geb. 1978) erzählt in ihrem fein komponierten Text „Welcome“ von den Adoptionsplänen eines kinderlosen Paares, das auf dem Flughafen statt eines Kleinkindes den 30-jährigen Obi aus Ghana in Empfang nimmt, einen Mann, der das eingespielte Paargefüge recht bald aus den Fugen bringt.
Ganz anders der am Anfang bereits erwähnte, nicht nur sprachlich völlig misslungene Text „In die Zukunft“ der flämischen Schriftstellerin Annelies Verbeke (geb. 1976). In der du-Form beschreibt sie zunächst auf einer halben Seite einen Schultag aus dem Leben der 8-jährigen Nuria, der mit dem gewaltsamen Tod ihrer Kollegin Fatma endet, an dem sie sich schuldig fühlt. Im weiteren wird die lange Flucht der Familie beschrieben, die mit dem Tod der Eltern endet. Das Ergebnis ist unsäglicher Kitsch der Anmaßung einer in warmer Sicherheit weilenden Autorin, die alles Mögliche in die paar Seiten hineinstopft, dabei jedoch nie der Sprachwelt, der Emotionalität und dem Begriffshorizont einer 8-jährigen nahe kommt, die derartige Schrecken zu erleben hat.
Das siebente Kapitel schließlich widmet sich unter dem Titel „Spring morgen runter, heute ist mir nach Gesellschaft“ Alpträumen und Märchen in Beiträgen von sechs verschiedenen AutorInnen. Herausragend sind die vier schrägen Kurzgeschichten der flämischen Dichterin Delphine Lecompte (geb. 1978), in denen sie lustvoll bekannte Märchenwelten durcheinanderwirbelt und mit dem Heute verschränkt. In diesem Kapitel ist auch der Gedichtzyklus „Höllenfeuer“ von Frans Budé abgedruckt, eine Reverenz an Dichter-Soldaten, die im ersten Weltkrieg schwer verwundet oder getötet wurden, etwa Blaise Cendrars, Alain Fournier oder Wilfred Owen.
Im achten Kapitel schließlich sind unter dem Titel „... er hat keine Zeit zu verlieren“ Geschichten vom Älterwerden abgedruckt. Hier muss ich als Gegengewicht zu obigen Ausführungen den Text „Gruppenhüpfen“ der schon genannten Autorin Annelies Verbeke anführen, der überzeugend vom Hüpfzwang eines Erwachsenen, Gruppendynamiken und gesellschaftlichen Erwartungen erzählt.
Und da wären noch so viele andere, lesenwerte Texte und AutorInnen zu entdecken ...
Mit Beiträgen von u. a. R. Al Galidi, M. Barnas, T. de Boer, S. Bos, A. Brassinga, F. Budé, A. Fierens, S. Van Hassel, D. Heerma van Voss, E. Lindner, I. L. Pfeijffer, L. Pleysier, J. van Rooij, T. Rozeman, M. Temmerman, P. Terrin, P. Verhelst, W. Versteeg, H. van Wieringen, M. Wortel.
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