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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Eine schmerzhaft schöne Geschichte

Stefanie Golisch hat eine hochpoetische Erzählung aus Widersprüchen gewebt.
Hamburg

Stefanie Golisch, 1961 in Detmold geboren, seit 1987 in Italien lebend, hat eine schmerzhaft schöne Geschichte über die Sprachlosigkeit des Lebens, die Sehnsucht und über Fluch und Segen der Literatur geschrieben. Was natürlich ein Paradox ist. So wie das Leben.

Da ist zum einen die märchenhafte und weitreichende Geschichte von Natalinas Namen, gleich neben der Einsicht, dass „[...] im entscheidenden Augenblick die Worte in sich zusammensacken und man mit einem Mal ganz allein mit sich war, erschrocken von der Hoffnungslosigkeit, die plötzlich mitten im Raum stand als Gespenst am helllichten Tag.“

Natalina, die vielleicht vierzehn, vielleicht fünfzehn, höchstens sechszehn Jahre alt ist, deren Vater plötzlich und ohne Erklärung verschwand, als sie noch klein war, die zurückgeblieben ist, mit einer Mutter, die sich danach sehnt geliebt zu werden, ohne das eigene Kind lieben zu können. Natalina mit ihrer trotzigen Zuversicht.

Da ist zum anderen ein Vater, der seinen Sohn liebt, und sich der Fragilität ihres gemeinsamen Glücks bewusst ist. „Eine Vorläufigkeit liegt über allem, die er ausdehnen muss, so lange es möglich ist.“

Dann ist da noch der Ort, an dem die Erzählung sich abspielt. Nicht das Meer. Nur eine Straße, die ihren Namen nicht verdient. „Nicht überall lässt es sich das Leben gefallen, geputzt und verschönert zu werden.“

Der Dritte, das alles entscheidende Bindeglied, ist ein Junge, der noch magisch denken kann, der mit Steinen spricht und eines Tages im Baum sitzt und dafür sorgt, dass Natalina urplötzlich ein Verantwortungsgefühl anfliegt. „Anstelle des Mondes hängt nicht er, sondern sie in diesem Baum und hat keine Ahnung, wie sie wieder zur Erde gelangen soll.“

Hier geschieht das erste offenbare Missverständnis. Denn der Junge, den Natalina retten will, braucht ihre Hilfe nicht.

Die ersten Abschnitte erscheinen wie kleine poetische, in sich geschlossene Geschichten, die aneinander anschließen, aufeinander aufbauen. Nachdem die beiden Hauptprotagonisten der Geschichte einander begegnet sind, schiebt Golisch eine hoch metaphorische, märchenhafte Geschichte ein, die die Stimmung an diesem Punkt der Erzählung zusammenfasst. Es ist eine Geschichte von der Unmittelbarkeit, vom Glück in der Gegenwart zu schwimmen und von der Gefahr in ihr zu ertrinken. Dabei versteht es Golisch vortrefflich mit poetischer Kraft der lauernden Gefahr des Pathos zu entgehen.

Schließlich treffen drei Einsamkeiten aufeinander und die Sehnsucht beginnt ein widersprüchliches Netz zu spinnen, in dem sie sich verstricken.

Ganz normale Geschichten, die jeden Tag geschehen, ganz normale Menschen, die nebenan wohnen, oder eine Straße weiter. Und wie einer ihrer Protagonisten es beschreibt, beherrscht auch Golisch die Kunst, alltägliche Schicksale in Literatur zu verwandeln, „die Schmutz und Stummheit verklärte und den Menschen jene Anziehungskraft verlieh, die sie im wirklichen Leben kaum jemals besaßen.“ Und so empfindet der Leser das tiefe Unglück der Personen, das kurz durchbrochen wird, um mit umso größerer Wucht wiederzukehren.

Wenn man liest, wie die Sehnsucht hier erklärt wird, ahnt man schon, dass das Netz nicht halten wird. „Kennst du das nicht, wenn du träumen willst, und da sind plötzlich keine Träume mehr, aber immer noch nicht nichts? Ich meine, dieser klebrige Rest, der sich da am Boden windet und einfach nicht sterben will, das ist die Sehnsucht.“

Die Lolita Geschichte, die sich zwischen Georg und Natalina entspinnt, während sein Sohn bei seiner Mutter ist, und es möglich scheint, „dass zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen“, wie es in einem von Rainer Maria Rilkes Briefen an Kappus heißt.

Natalina will so sehr an ihr Glück glauben und Georg ist so vorläufig in seiner Vorsicht, dass das Unglück, das sich zunächst als Glück tarnt, seinen Lauf nehmen kann.

Während Georg Zwetajewa und Kafka zitiert, spricht Natalina naiv und aus einem unvorbelasteten Herzen: „Man soll über das Glück nicht nachdenken, sagt sie, es hat keinen Sinn. Wo hast du das denn gelesen, gibt er zurück. Gelesen, fragt sie?“

Was Natalina und Georg lange nicht begreifen, ist der Riss, der durch ihre Geschichte fährt, als Tobias, scheinbar vollkommen verändert von seiner Mutter zum Vater zurückkehrt. Auf einmal gibt es Koalitionen, auf einmal ist das Dreieck etwas, das immerzu einen ausschließt, einen verletzt. Unüberwindliche Abgründe tun sich auf und es gibt keinen Ausweg aus der Zwangsläufigkeit, dass das Glück der einen das Unglück eines Dritten bedeutet.

Am Ende geht es, soviel sei verraten, wie so häufig im Leben, nicht darum, zu verstehen, wie etwas geschehen konnte, wie die Einzelteile zusammenhängen, sondern darum, einen Schuldigen zu finden, damit man „den Triumph der moralischen Überlegenheit“ auskosten kann.

Vielleicht ist das, wofür wir Menschen uns am meisten schämen, das was jeder Scham zugrunde liegt, unsere unüberwindbare Einsamkeit, diese tiefe Unmöglichkeit, einander zu verstehen. Und vielleicht ist das der Kern jeder Literatur, die über den bloßen Unterhaltungswert hinausgeht. Und über den Unterhaltungswert geht Stefanie Golisch Buch in jeder Hinsicht hinaus; in den Höhen ihres sprachlichen Vermögens ebenso wie in der Tiefe der Einsicht in die menschlichen Beweggründe.

Stefanie Golisch
Anstelle des Mondes
Pop Verlag
2015 · 74 Seiten · 12,99 Euro
ISBN:
978-3863561086

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