Die Unsicherheit der eigenen Existenz
Es gibt Kritiker, die unterstellen der Poesie von Steffen Jacobs etwas Altväterliches, das sich – ihrer Meinung nach – nicht nur durch den Gebrauch traditioneller Formen wie Reim, Rhythmus und Metrik manifestiere, sondern vor allem durch den Duktus, das Sentenzhafte, die „Moral von dem Gedicht“, die oft wie ein Fazit seine Poeme beschließe. Etwas „pennälerhaft Altkluges“ hafte seinen Gedichten an, gestand mir sogar kürzlich der Teilnehmer eines Poesie-Seminars, dem ich seinerzeit Gedichte von Steffen Jacobs empfohlen hatte.
Abgesehen davon, dass man Gedichten wahrlich Schlimmeres vorwerfen kann als klassische Schule oder Erkenntnisgewinn, bleibt die Frage, wie diese kritischen Stimmen zu ihrem Urteil kommen. Tatsächlich scheinen Jacobs’ Gedichte, verglichen mit denen seiner lyrischen Generationsgenossinnen und –genossen wie Monika Rinck, Marion Poschmann oder Ron Winkler, auf den ersten Blick konventionell zu sein. Nicht dass es ihnen an zeitgenössischer Anbindung fehlte, aber Steffen Jacobs schürft nicht systematisch wie vor allem Rinck und Winkler in den modischen Claims der Verwaltungs-, Technik- oder Mediensprache, um seine Gedichte mit den dort gewonnenen Goldkörnchen aufzuhübschen. Bisweilen weisen die Gedichte der Genannten ja deutliche Spuren von Vokabeldoping auf, ohne dass es ihnen gelänge, diese Vokabeln auch nur in einen halbwegs nachvollziehbaren Sinnzusammenhang zu stellen. Es sind oft Bilder ohne Logik, die in ihrer Beliebigkeit aufsteigen wie Luftballons, das Gedicht wird so zum Bündel flüchtiger Reize. Jacobs geht es aber nicht nur um Reize, sondern um Erkenntnis. Bisweilen sogar um die Erkenntnis des Lebens
Rückblick auf das zu führende Leben
Glück und Unglück hatten ganz nahe gelegen,
die ganze Zeit, in stummer Bereitschaft.
Es hatte sie bloß keiner gesehen.
Es hatte sie keiner vermißt.
Über Nacht waren sie in Erscheinung getreten,
wie das Graffiti an der Museumswand:
Der Wandel schleicht auf Gummisohlen,
und wenn er geht, kommt man dich holen.
Das zu führende Leben war ungelebt geblieben.
Muss denn der letzte Satz noch sein, fragt sich da manch einer jener Kritiker, die Streichen und Wirkung für ein und dasselbe halten. Ja, er muss sein, kann man ihnen ruhigen Gewissens antworten. Denn gerade dieser letzte Satz entfaltet in seiner Lakonie eine existentielle Wucht, die mit den finalen Sätzen in Kafkas Türwächterparabel durchaus mithalten kann.
Kernstück des Jacobs’schen Gedichtbandes sind indes Liebesgedichte, wie der Titel es auch schon vieldeutig anmoderiert. Im Titelgedicht wird der Protagonist am frühen Morgen durch einen Hagel von fallenden und aufplatzenden Kastanien überrascht. Und schon ist ein treffendes Bild für die Unwägbarkeiten der Liebe gefunden: „Dem alten Geschäft der Vermehrung“ wird die „Versehrung“ gegenübergestellt, zwischen Lust und Leid spielt sich die Liebe ab. Manche dieser Gedichte scheinen den Begriff Liebe überaus sicher und selbstbewusst im Munde zu führen. Doch liest man genauer hin, befindet man sich auf höchst trügerischem Terrain. In dem formidablen mehrteiligen Gedicht „Aufhören!“, das den schmerzvollen Krankenhausaufenthalt einer geliebten Person beschreibt, heißt es im letzten Teil: „und wenn es das nicht ist, Liebe/dann weiß ich auch nicht weiter.../“, dann müssen wir eben, so Jacobs, „weiter machen, tasten, pfuschen.“
Die Unsicherheit der eigenen Existenz ist auch Aufhänger des Gedichts „An einen Gerüstbauer.“ Die Tatsache, dass vor dem eigenen Fenster ein Gerüstbauer in luftiger Höhe seinem nicht ganz risikolosen Gewerbe nachgeht, liefert Steffen Jacobs einen höchst reizvollen Vergleich: das Handwerk des Gerüstbauers steht dem Handwerk des Satzbauers gegenüber. Die Frage nach Risiko und Fallhöhe scheint zunächst klar: Fällt der Gerüstbauer hinab, ist er tot. Stürzt der Dichter an seinem soliden Schreibtisch mit seiner Poesie ab, ist höchstens ein Gedicht missglückt. Doch während des Gedichts verschiebt sich die Perspektive: Während beim Gerüstbauer jeder Handgriff dank handwerklicher Routine sitzt, ist beim Dichter jeder poetische Zugriff ein neues Wagnis. Das Fazit fällt deshalb zugunsten des Gerüstbauers aus: “Steht er auch an der Wand, / so ist er doch besser gerüstet.“ An diesem Vergleich zeigt sich, was die Qualität der Bilder von Steffen Jacobs ausmacht: Es ist ihre Tragfähigkeit und – ja, noch einmal – der Erkenntnisgewinn, der mit diesen Gedichten einhergeht. Bleibt festzuhalten: Solange weiterhin so meisterliche Bauten entstehen wie in diesem Gedichtband, solange wollen wir dem Dichter Steffen Jacobs sein luftiges Handwerk gern zumuten.
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