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Kritik

Die Grenze zwischen dir und mir

"Territorien" führt ein Paar ins Spiegelkabinett der Fremde
Hamburg

Nachts unter der Bettdecke finden Emmas und Samuels Füße instinktiv zueinander – seit sie ein Paar sind ist das so. Doch dann zerreißt ein nächtlicher Anruf die Harmonie ihrer Körper. Die Nachricht am anderen Ende der Leitung: Samuels Vater ist tot. Gleich am nächsten Tag reisen die beiden zur Beerdigung nach Nicaragua, wo auch Samuel bis vor acht Jahren lebte.

Es ist das nächtliche Schrillen des Telefons – jener kleine Moment, der alles verändern wird – mit dem Susanne Gregors Roman "Territorien" einsetzt. Aus dem geplanten Kurzaufenthalt wird eine für die Ich-Erzählerin nervenaufreibende Exilerfahrung, die auch ihre Beziehung auf den Prüfstand stellt – ein Thema, das Gregor bereits in der gleichnamigen Erzählung "Territorien", für die sie 2010 mit dem Exil-Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen" ausgezeichnet wurde, sowie in ihrem Debütroman "Kein eigener Ort" thematisierte.

In Managua erwartet das junge Paar ein überraschendes Erbe: die Möbelfabrik von Samuels Vater, die sich vor Aufträgen kaum retten kann. Samuel, der sich in Wien mit einem unterbezahlten Assistentenjob über Wasser gehalten hat, blüht jäh auf angesichts der neuen Herausforderung und strotzt nur so vor Tatendrang. Emma hingegen, im fünften Monat schwanger, ist wenig begeistert von der Aussicht, ihren Posten als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kommunikationswissenschaften in Wien aufzugeben und in der Fremde ein Leben als Hausfrau – unter der Fuchtel von Samuels Mutter – anzutreten. Das Bild, das sie sich von ihrem gesicherten Familienleben in Österreich gemacht hatte, schmilzt binnen weniger Wochen unter der erbarmungslosen tropischen Sonne dahin. Dennoch klammert sie sich nach wie vor an ihre Vorstellungen vom Glück zu zweit (bzw. bald zu dritt): "Hier ist es, mein einziges Stück Zuhause, wenn sich unsere Haut trifft, so wie immer."

Doch die trifft sich immer seltener – während Samuels Mutter und Schwester einzig um das Wohlergehen des ungeborenen Kindes bemüht scheinen, verbringt Samuel seine Tage in der Firma und kommt nur noch zum Schlafen nach Hause. Und Emma fühlt die Falle traditioneller Geschlechterrollenverteilungen zuschnappen, der sie bislang erfolgreich entgangen war.

Gregors lange, verschachtelte Sätze, in denen wörtliche Rede, innere Monologe, Außenwelt und Erinnerungen zu einem klaustrophobischen Bewusstseinsstrom verschmelzen, ziehen einen unweigerlich hinein in Emmas Gefühlswelt. Nicht immer ist einem die Erzählerin sympathisch; manchmal möchte man sie einfach nur an den Schultern packen und schütteln ob ihrer weinerlichen Art, ihrer Stimmungsschwankungen und selbstgerechten Vorwürfe. Doch auch Samuel bekleckert sich in der Ehekrise nicht gerade mit Ruhm. Wer wollte hier den ersten Stein werfen?

Gregor betreibt eine gründliche Paaranalyse, in der sich wohl jede_r auf die ein oder andere Weise wiedererkennt. Mit feinem literarischen Gespür seziert sie all jene kleinen Gesten und Blicke, ausgesprochenen und unausgesprochenen Worte, in denen sich nicht nur das Auseinanderdriften des Paares, sondern ein ganzer Kosmos aus Ängsten, Hoffnungen und früheren Verletzungen manifestiert. Es sind Emmas hypersensible, manchmal fast paranoid anmutenden Interpretationen, durch die wir ihre Umgebung und Samuels Handlungen wahrnehmen („Da dreht er sich noch einmal um und drückt meine Hand, die auf dem Koffer liegt, wie zum Abschied.“), und es fällt zunehmend schwer, sich ihrer Antipathie gegen das Land und die Enge in Samuels Elternhaus zu entziehen.

Gregor kreiert eine Atmosphäre latenter Bedrohung, die einem gut gemachten Horrorfilm in nichts nachsteht. Vielleicht ist es die Betonung des gespenstisch roten Nachthimmels und der drückenden Hitze („Das Atmen fällt mir schwer, als wolle mich die Luft selbst ersticken“), oder aber das Gefühl, den eigenen Willen aufzugeben und sich langsam aber sicher fremden Mächten zu überlassen, die einem beim Lesen die Kehle zuschnüren.

In einigen Szenen allerdings übertreibt es die Autorin ein wenig mit bedeutungsschwangerer Symbolik. Aufgeladene Stimmungen werden unweigerlich von aufziehenden Gewittern begleitet, beim ersten Gynäkologen-Besuch fällt der Strom aus, und das Restaurant, in dem das Zerwürfnis zwischen Samuel und Emma einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, liegt ausgerechnet im Epizentrum des letzten großen Erdbebens. Doch vielleicht ist diese unwahrscheinliche Häufung böser Vorzeichen auch einfach nur Emmas wachsender Unzufriedenheit – und damit ihrer Neigung, alles schwarz zu sehen – geschuldet.

Komplexer und wirklich interessant wird es immer dann, wenn Gregor anhand von Emmas Selbstreflexionen die Ebene des vorgeführten Paares transzendiert und essentielle Fragen anstößt, die uns alle in unserer lebenslangen Zerrissenheit zwischen Anlehnungsbedürfnis und Unabhängigkeitstreben betreffen.

Nach und nach realisiert Emma, dass bereits in Wien eine Schieflage zwischen ihr und Samuel bestand. Seine Nörgeleien, sei es über die Kälte oder die falschen Bohnen fürs Gallo Pinto, hat sie nie ernst genommen. Und auch ihm selbst wird erst jetzt bewusst, wie tief seine Unzufriedenheit tatsächlich saß – und erwartet nun von Emma, ihrerseits Opfer zu bringen. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie Emma findet. Und doch muss sie sich voller Schrecken fragen: Hat sie vor Samuels Unglück jahrelang die Augen verschlossen? Gar seine Schwäche ausgenutzt, um sich selbst stärker zu fühlen?

Emmas beste Freundin Vali, die in ihrer selbstbewusst vor sich her getragenen Autonomie als Gegenpart zur Erzählerin fungiert, bringt es auf den Punkt: Das Anklammern an einen Beziehungspartner sei, als wolle man Halt auf einem wackligen Stuhl finden. Samuel hingegen ist der Meinung, "dass es gerade dieses Nichtaufgeben ist, in dem die Liebe liegt".

Zwischen diesen beiden Polen schwankt Emma. Die veränderten Umstände zwingen sie dazu, die eigenen Prioritäten neu zu überdenken; und so ist "Territorien" – ganz ohne Generationen-Etikett oder feministischen Zeigefinger – letztendlich auch ein Roman über die Qual der Wahl, vor die junge westliche Frauen heutzutage gestellt werden: Kind oder Karriere? Unabhängigkeit bewahren oder das eigene Leben dem Wohl der Kleinfamilie unterordnen?

Mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen arbeitet Gregor heraus, wie labil die meisten Paardynamiken sind, wenn man die Beteiligten erst einmal aus ihrem Alltagstrott herausreißt. Was bislang als stillschweigendes Tauziehen zwischen Nähe und Distanz funktioniert haben mag, gerät plötzlich aus dem Gleichgewicht. Über die Jahre gewachsene Schuldverhältnisse kommen jäh zu Tage und wollen beglichen werden. Oder, wie es ein deutscher Arzt ausdrückt, der seit Jahren in Nicaragua lebt: "Die Fremde ist wie ein Spiegelkabinett, für Sie selbst und Ihre Beziehung." Das kann lehrreich sein und ein Paar zusammenschweißen. Oder aber die Beziehung kann an den Erkenntnissen, die das Spiegelbild bietet, zerbrechen.

Susanne Gregor
Territorien
Droschl Verlag
2015 · 208 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
9783854209669

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