Polemisch & Cremig
Es gibt nur wenige Texte, die einen mit ihrer Thematisierung aktueller Entwicklungen richtig umhauen können, so sehr, dass man das Gefühl hat, ihre Substanz schaffe es, der Wirklichkeit, in der man sich bewegt, mehr Bedeutung zu verleihen, mehr Gewicht.
Anfangs war ich in Bezug auf Olivia Wenzels Text noch sehr skeptisch: die Form, ein Dialog, in dem klassische Fragen der Einreisebehörden der USA und persönliche Fragen sich durchmischen – auf diese Art soll wohl das notwendige Maß an Ironie und Irritation dem sonst ernsten Thema beigemengt werden, damit Dynamik und Aufmerksamkeit nicht leiden – erschien mir etwas umständlich und auch inhaltlich hatte ich die Sorge, dass ein Durchspielen der Fragen nach der ethnischen Zugehörigkeit und Gleichheit sich schnell literarisch verzetteln könnte. Eine Sorge, für die ich mich nun, nach der Lektüre, schämen sollte. Denn Wenzels Text gewinnt mit jeder neuen, wohldosierten Facette an Kraft und Bedeutung und entlädt sich am Ende in einem, nicht überinstrumentierten, Plädoyer:
-für einen moment sehe ich etwas aufflackern, ein bild aus dem geschichtsunterricht, aber aktualisiert, irgendwie neuer, mit drohnen. statt köpfen mit stahlhelmen die gesichter meiner freunde
[…]
-UND DANN?
-und dann:
meine freunde als kapitel in einem geschichtsbuch, das zugeschlagen wird, emotionslos, sachlich, weil das alles schon lange her ist. meine toten freunde als etwas, das heute niemanden mehr betrifft. meine toten freunde als eine erinnerung, als denkmal auf papier, über das man sagen wird:
sei doch nicht so empfindlich, das war der zeitgeist damals
Es gibt ein Augenverschließen, das immer mitläuft, unsere Gedanken abschirmt gegen Dinge, von den wir eigentlich wissen, dass sie passieren. Die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt, ihre Aufmerksamkeit für größere und globale Ereignisse und Prozesse mit dem medialen Raster zu filtern, das aber nun mal Teil dieser Prozesse ist, Teil der Ereignisse. Sich die Bedrohungen, die in den heutigen Systemen und Entwicklungen liegen, anschauen, wie sie sind; sich aufrütteln lassen: Das gelingt mit Texten wie dem von Olivia Wenzel. Denn was auch immer passieren wird, es passiert jetzt schon etwas, dass dem vorausgeht und darin existieren wir, ganz und gar.
Ich war bis über beide Ohren in Dörte verliebt, bis über den Haaransatz, bis über die Dächer der Großstadt, bis ganz nach oben in den unübersichtlichen Sternenhimmel.
Mit einer sympathischen Leichtigkeit und einem Spritzer Beliebigkeit beschreibt ein namenloser Ich-Erzähler seine Passion für eine Frau namens Dörte. Das Ganze lässt sich leider ein bisschen so an, wie schon unzählige Texte über Paare mit einem verliebten (meist männlichen) Part und einem jung-verrückten, angebeteten (meist weiblichen) Part davor. Dörte macht allerhand Irritierendes, Ungewöhnliches, Freies und er beschreibt seine Faszination für sie. Solche Geschichten haben ihre Berechtigung, denn es gibt solche Beziehungen und es gibt solche phantasievollen und an der Realität nicht besonders interessierten Menschen, die in Anderen eine Art grenzenlose Bewunderung hervorrufen. Aber trotzdem habe ich mich beim Lesen nicht davon lösen können, dass Dörte mir eben niemals einzigartig vorkommt, sondern immer wie ein Abziehbild, eine Schablone, in die ein paar witzige und gute Ideen und ein Tick Unbändigkeit gequetscht wurden.
Ich werde nie ganz verstehen, warum manche Lyrik eine Art Sammelsurium sein, nicht einen Ton treffen, sondern tausend Töne imitieren will. Wobei: das unterstelle ich jetzt den Gedichten von Johanna Hühn und muss mir nach einer zweiten und dritten Lektüre eingestehen, dass ich danebengegriffen habe mit dieser schnellen Kritik. Denn zumindest das letzte Gedicht „Rollfeld Roulette“ hat einen großartigen Drive, eine geradezu lästerlich-erfreuliche Bausch und Bogen-Art. Vom Stabreim
toter Igel im Rückspiegel
über den
Truppenübungsplatz im Uhrgehäuse
wer mustert verlustige Dinge: wir
bis zum alten Fisch
auf dem Parkett, er und ich
einander Mund zu Mund beatmend,
die Träume auf den Zähnen wie verschmierter Lippenstift,
wir lachen, wir sagen so gerne kaputt.
ist alles Spin und irgendwie auch heile Welt. Und Lyrik, die Spaß macht, die die Realität nicht ganz aushält und sich ins Wort begibt, um dort ein paar Insignien der Wirklichkeit durcheinander zu würfeln, trotzig, freudig.
Es folgt Laura Vogts „In Zwischenräumen“, eigentlich ein sanft erzählter Text, der aber gerade wegen dieser vermeintlichen Ruhe in den entscheidenden Momenten mit einer nicht überzogenen Heftigkeit seine schmerzlichen Aspekte zur Geltung bringen und durchdringend abbilden kann. Der Auszug lässt auf einen gut erzählten, ungeschönten und gleichsam nicht über die Maßen nur das Existenzielle betonenden Roman hoffen.
mund-voll welkt eine Geste se-ele anheim: Distanz des Wassers.
Worte hochnehmen und an ihnen entlangfahren als wären sie Objekte. Sollbruchstellen aufdecken, anbrechen, markieren vielleicht. Die Worte nebeneinanderstellen. Zum Entziffern anleiten, aufrufen. Die Schnittmenge, das von den Worten Abgegraste beiseitelassen und nur die Worte anfassen.
So stelle ich mir die Ideen hinter dem Innenleben von Lisa Goldschmidts Prosagedichten unter dem Titel „nœud“ vor. Nœud ist Französisch und bedeutet Knoten. Gern würde ich verstehen wie dieser Titel auf die Form oder das Verfahren anspielt, mit denen die Worte ineinandergreifen. Aber es offenbart sich mir nicht wirklich.
ein schiefes Ge-sicht wende die Syntax verlege Gleise zur Sprache
Ich habe das Gefühl, ich bekomme nicht genug von der Kommunikation mit, die sich im Surren der Sprache (sind hier Stechmücken am Werk? Oder ein Reißverschluss?), im Lichtreflex hinter den Blenden abspielt. Eine Kommunikation, die anscheinend von der Form und der Bewegung der Texte unterstützt werden soll. Aber dann denke ich auch wieder: warum soll ich dem Nachspüren, das Entziffern, was sich mir so verklausuliert verschließt? Ich weiß es nicht. Und schweige mal in Sachen Wertung und lese noch eine Weile in diesen Kunstwerken herum. Kunst-werke, ja.
So schön er auch in seiner Sprache hier und da ist und obgleich er sehr geschickt Einflechtungen vornimmt – und bestimmt nicht, weil es eine Liebesgeschichte ist – ich muss dennoch sagen: Stefan Hornbachs Romanauszug geht mir furchtbar auf die Nerven. Und ein bisschen soll er das wohl auch, immerhin trägt er den Titel „Alles, was ich dir schon immer sagen wollte“ und redet (literally) ohne Punkt und Komma den Fokus des Lesenden in Streifen, in Fetzen. Es gibt einiges, was trotzdem sehr stark heraussticht, zum Beispiel eine Passage, in der es um Krebsgeschwüre geht, die der namenlose Protagonist seinem geliebten Du aus dem Fleisch schneiden oder pulen will. Auch die Art, wie der Text erneut Fahrt aufnimmt, wieder zu fabulieren versteht, wenn man gerade denkt, ihm würde die Puste ausgehen, ist beeindruckend – aber eben nicht bestechend, was mich angeht.
alle Worte kämpfen um das Gleiche
Seit Maja-Maria Becker anlässlich einer Lesung in Berlin einige dieser Texte vortrug, habe ich mich sehr darauf gefreut, die unter dem Titel „Material“ versammelten Bild-Text-Korrespondenz-Werke (die Bilder stammen von Eva Noeske) erneut zu lesen und noch genauer in Augenschein nehmen zu können.
Wie schon bei der Lesung bin ich wieder beeindruckt von deren Dichte, den weitreichenden Tendenzen darin und der geringen Scheu vor einer, verschiedenem Geschehen kritisch und offen zugewandten, innovativen Perspektivierung. Hier wird auf eine Art und Weise kaleidoskopisch thematisiert, die etwas Sanftes hat, aber auch etwas Bestimmtes und das Ungeheuerliche hervortreten lässt und es dann schon wieder hinterfragt, aufspaltet, wirken lässt, ohne zu mahnen. Allein wegen dieser großartigen Texte lohnt sich bereits die Anschaffung dieser Ausgabe!
so kann ich den Text auch darstellen
als logistisches Problem, als Anweisung an mich selbst: bin ich der richtige Mensch zu richtigen Zeit?
Kultig, Anti, referentiell und zerstörerisch – Sascha Machts MetaEssayParodie „Da kommt der Helikopter“ will irgendwie alles sein und ist irgendwie nichts so richtig. Es macht Spaß den Text zu lesen und spätestens wenn Björn Höcke und Scarlett Johansson im Harz verrecken, hör ich einige Leute in der Reihe hinter mir applaudieren. Aber bei aller Dystopieironie und Verballhornungsallherrlichkeit, kommt mir das alles stellenweise wie großer Blödsinn vor und nicht unbedingt guter Blödsinn, sondern nerviger Blödsinn. Ein Argument für den Aufbau und die Verfahrensweise dürfte sein, dass man der Unübersichtlichkeit nur durch eine gewisse Beliebigkeit begegnen kann. Ob das stimmt, will ich nicht beurteilen. Und man könnte auch einfach sagen: hey, hier ist ein Text, der Drive hat, der Spaß macht und der auch ein bisschen was ans Licht zieht und zerrt. Ist doch cool.
Aber ich find das nicht unbedingt cool. Ich finde der Text klingt nach einem Versuch, als der Cleverste im Rund zu erscheinen und darum geht es bei Literatur meiner Ansicht nach nicht.
Vielleicht ist eine solche Einschätzung von Machts Text aber auch verfehlt, vermessen. Vielleicht sollte man diesen Text als Anklage lesen, gegen die Strukturen einer Literatur gerichtet, die meint, dass ihr die Welt gehört. Die immer erhaben über ihren Gegenstand ist, selbst wenn sie ihn großartig abbildet, sich in ihn einfühlt. Weil ein Wort alles sein kann, nur eben höchst selten eine Tatsache ist. Oder höchstwahrscheinlich sogar nie. Wo Sprache beginnt, beginnt auch die Ausdeutung, beginnt die Geschichte. Wenn Sascha Macht darauf hinauswollte – und das mag sein – wäre ich mit dem Text wieder versöhnt.
Ich finde es immer wieder wunderbar, dass die Bella mit einem Interview endet; das bringt einen gewissen Entspannungseffekt mit sich, zumindest für mich. Diesmal sind es Virginia Brunn und Anke Stelling, die Ole Schwabe Rede und Antwort stehen. Allerdings relativ unabhängig voneinander, es entsteht kein wirklicher Dialog zwischen den beiden Autorinnen. Trotzdem wird hier wieder erstaunliches zu Tage gefördert. Und ich muss auf jeden Fall in einem Punkt zustimmen: Es gibt zu viel Sicherheitsabstand und Absperrband in der deutschen Literatur der Gegenwart.
Fazit: Eine Bella, die einem ordentlich den Kopf verdreht. Manchmal macht das Spaß, dann und wann will man ihn wieder geraderücken. Aber die meisten Texte nehmen einen mit und setzen einen irgendwo wieder ab. Bella zeigt: Die Textlandschaft ist überall.
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