Das Produkt Pop
»Dort wurden sehr viele Menschen körperlich und auch psychisch dermaßen geschändet. Was dadurch, dass man bei Universal einen sehr sektenhaften Ansatz pflegte, noch verschärft wurde. Ständig E-Mails von Tim Renner: ‚Denn ihr wisst, es geht um Musik – egal um welche.‘ Das ist für mich der absolute Widerspruch!«, kritisiert DJ und –Produzent Lawrence in Jürgen Teipels jüngst erschienenem DJ-Roundtable Mehr als laut die Musikindustrie, die er einmal als Praktikant und später hinter Plattentellern und Mischpult erlebte.
Genau dieser Tim Renner, der von 2001 bis 2004 Geschäftsführer von Universal Deutschland war, verspricht nun im Untertitel seines gemeinsam mit DJ und PR-Agentin Sarah Wächter, Renners ehemaliger Assistentin, verfassten Buchs Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten, die Wahrheit über die Popindustrie aufzudecken. So tönt zumindest der Untertitel.
Tatsächlich gelingt den beiden das Kunststück, den Rundgang über verschiedene (Selbst-)Inszenierungsmaßnahmen internationaler Acts, die Menschen hinter der Musik, den damit verbundenen Strukturen und rechtlichen Fragen auf knapp 330 Seiten unterhaltsam leicht und einfach verständlich aufzubereiten.
Dabei geht es natürlich überwiegend um Musik, doch es ist nicht egal, um welche. Schwärmt das Autorenduo im Vorwort noch von der »einzigartigen, geheimen Kraft« von Musik, die »reine Emotion« ist, meinen sie damit sicherlich nicht subkulturelle Experimentalmusik, sondern vermarkt- und –wertbare Pop- und Rockmusik. Jene Art von Musik, die die beiden selbst während ihrer beeindruckenden Karrieren massenweise ans Publikum verschachert haben.
So geht es in Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten im Kern um Profitfragen: Welches Verhalten ist rentabel? Wie können sich musikalische Acts inszenieren, um ein großes Publikum mit tiefen Taschen zu überzeugen? Welche Kompetenzen müssen die Menschen hinter den Platten, Tourplänen, Merchandiseartikeln, Social-Media-Accounts und nicht zuletzt die in den Chefsesseln mitbringen? Welche Modelle sind überholt, welche weisen der maroden Musikindustrie – denn von den konventionellen Strukturen halten die beiden zu Recht wenig – den Weg in die Zukunft?
Mit viel Sprachwitz und coolem Wissen ausgestattet erklären sich die beiden durch die einzelnen Stationen und sprechen dabei doch, egal ob es umso disparate Künstler_innen wie Heino, Rammstein, Lana del Rey, Cro oder Amanda Palmer geht, vorwiegend über das »Produkt« Pop. Dabei treffen sie nicht nur vereinzelt zweifelhafte Aussagen, sondern klopfen sich hier und dort auch selbst auf die Schulter.
So heißt es beispielsweise, dass für Popacts der Umschwung in avantgardistische Gefilde den kommerziellen Selbstmord nach sich ziehen würde. Erstaunlich, wo die beiden mehrfach auf The Beatles als »größte Band der Welt« referieren. Und auch von Radiohead sprechen, deren Karriere, anders als bei den Beatles nicht nur keinen Dämpfer abbekam, sondern erst recht Fahrt aufnahm, als die Songstrukturen zu bröckeln begannen. Vermittelt wird aber lieber das Bild von emsig arbeitenden self-made wo_men, die sich aus Indie-Strukturen befreien und eine größere Masse erreichen – mit der einzigartigen, geheimen Kraft der reinen Emotion, versteht sich.
Auch die Wahl der Interviewpartner_innen riecht etwas säuerlich nach Vitamin B: Kaum jemand aus dem deutschen Popzirkus, der sich in Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten äußert und nicht mit Rammstein zu tun gehabt hätte. Der Band, die Renner höchstpersönlich zu internationalen Superstars, pardon, zur weltweit erfolgreichen Marke gemacht hat. Dass die ihre Selbstinszenierung und damit auch Vermarktungsstrategie auch nur von Projekten wie Laibach oder D.A.F. recycelt hatten, lassen Renner und Wächter ebenso unter den Tisch fallen. Auch, dass Renner vermutlich selbst bei cleveren Marketingkampagnen für Phillip Boa und anderen hinter den Hebeln saß, wird gar nicht erst diskutiert, sondern beklatscht.
Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten ist ein tolles Buch über die Popindustrie – aber es entstammt ihr auch. Die versprochene Wahrheit über die Popindustrie ist letztlich jene, die die beiden selbst mitgestalten. Das visuelle Versprechen, das auf dem Cover in Form einer zerbrochenen goldenen Schallplatte ausgesprochen wird, wird nur bedingt eingehalten. Die beiden promoten nicht die Liebe zur Musik, sondern den Weg zur nachhaltigen Rentabilität der dahinterstehenden Industrie. Das ist gleichzeitig auch ihre Motivation, die sich wiederum selbst im Buch niederschlägt. Der pinke Schriftzug mit dem nicht minder Aufsehen erregenden, knalligen Titel – ein Zitat aus einem Song der Hamburger Schule-Band Die Sterne – legt bereits davon Zeugnis ab: Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten ist allein von seiner Aufmachung her ein toller PR-Gag für sich selbst.
Einer jedoch, von denen nicht nur eine Laienleserschaft ihren – ob nun intellektuellen oder de facto finanziellen –Profit schlagen können. Denn obwohl die beiden ihr Eigeninteresse geschickt zu kaschieren wissen wir spätestens gegen Ende des Buches deutlich, dass die beiden auch in einer Vision vereint sind. Es ist eine sehr moderne, zeitgemäße, die auf den Entwicklungen wie dem Aufbau von Downloadbörsen und Streamingdiensten bis hin zu Crowdfunding und bandeigenen Labels aufbaut und nach neuen Methoden und Möglichkeiten fahndet.
Renner und Wächter versuchen, der Larmoyanz der altbackenen Musikindustrie über gesunkene Absatzzahlen und der Wut von Künstler_innen über gesunkene Einnahmen positive Perspektiven entgegenzuhalten. Perspektiven, die Renner als Kopf von Motor Entertainment bereits selbst in die Tat umsetzt – so viel Zeit für Eigenlob und -werbung muss dann bei aller wirtschaftlichen und kulturellen Innovationskraft wieder sein.
Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten ist so ambivalent wie ein guter Popact. Auratisch, das heißt authentisch, nahbar und zugleich distanziert und durchdacht angelegt. Es garantiert einen verknappten und trotzdem informativen Einblick in die Welt des Musikbusiness‘, schlüsselt Phänomene wie Spotify ebenso scharfsinnig auf wie es die Aufgabenbereiche Booking, Promotion und A&R zu erklären weißt. Dass es aber eingefärbt ist von den Interessen Renners und Wächters, sollte bei der Lektüre unbedingt bedacht werden.
Vielleicht bietet es sich an, nebenbei in Berthold Seligers ungefähr zeitgleich erschienenes Buch Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht hereinzuschauen. Der steht mit der Musikindustrie noch deutlich verbitterter auf Kriegsfuß als die beiden, die sich zwar von den alten Strukturen, nicht aber von den großen Versprechen der Branche zu verabschieden wollen scheinen.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben