Zwischen Lebens- und Überlebensverhältnissen
Es wird schnell vergessen in unseren feinen Breiten, aber die Behandlung, die die Würde des Menschen in vielen Gebieten des Erdballs tagtäglich erfährt, lässt sie nicht in allzu guter Verfassung zurück. […] Die Würde des Menschen, das ist eine Lüge, die nur dort der Wahrheit entspricht, wo ihr nicht bereits banalste Konzepte und Gegebenheiten einen Strich durch die Rechnung machen. An diesen banalen Umständen aber, nehmen die Wenigsten von uns Anteil oder Anstoß und niemand trachtet danach, sich dafür einzusetzen, dass die Verhältnisse sich ändern. Das ist die Wurzel des Elends wie ich es gesehen habe. (–George Orwell, „Erledigt in Paris und London“)
Eine der aufkommenden Fragen in den letzten Jahren, die Literatur betreffend, war: kann man, soll man über Geflüchtete schreiben. Es steckt darin natürlich eine alte Frage, die Frage nach der Zeitgenossenschaft, nach dem Engagement, aber auch die viel weiter reichende Frage, ob Literatur Ereignisse anders abbilden und eine andere Form der Aufmerksamkeit, der Nachvollziehbarkeit, für bestimmte Themen erreichen kann. Ist es einfach nur die Vermessenheit der Kunst, dies anzunehmen, oder liegt eine Möglichkeit im Schreiben, auf etwas ein- und damit umzugehen, die wichtig ist und einen Unterschied macht?
Ich will dieser Debatte hier nicht zu Rampenlicht verhelfen, aber sie schwebt natürlich über den Gefühlen, die ich Tommy Wieringas „Dies sind die Namen“ entgegenbringe. Es ist leicht, ein Buch vorzuverurteilen. So wird heute allzu oft Politik, werden allzu oft Meinungen gemacht: Man wettert nicht gegen Inhalte, sondern gegen Verpackungen; nicht Räume des Denkens, in denen man sich noch treffen könnte, werden in Zweifel gezogen, sondern Fassaden werden mit Dreck beworfen.
In der Literatur muss es aber um die Komplexität der Ausführungen gehen, nicht bloß um den Schatten, den das Thema wirft; um die Inhaltsfäden und nicht um den großen Nenner.
„Dies sind die Namen“ besteht aus beinahe 40 Kapiteln, in denen zu Anfang abwechselnd zwei Handlungsfäden verfolgt werden. Der eine hält sich an Polizeikommissar Pontus Beg und seinen Alltag in einer fiktiven osteuropäischen Stadt, umgeben von Einöde. Er hat einen guten Posten und profitiert von seiner Reputation und den eingefahrenen Strukturen in der Stadt. Ab und an erlaubt seine Haushälterin, dass er mit ihr schläft. Davon abgesehen hat er so gut wie gar keine nichtberuflichen menschlichen Kontakte, keine Familie, und er versucht zumindest, über chinesische Weisheitslehren eine gepflegte Beziehung zum eigenen Selbst zu wahren.
Es ist bemerkenswert, wie sich aus der wiederholten Darstellung der Einsamkeit und Kargheit im Leben von Pontus Beg allgemeine Aspekte der Verlassenheit des Menschen herauskristallisieren. In den meisten Szenen des Romans erleben wir ihn im Zwiegespräch mit sich selbst, erleben seine Gedanken und Eindrücke beim Bewältigen von Arbeit und Freizeit. Diese Passagen sind voller wie überflüssig wirkender Bemerkungen, die die Erzählbewegung in den Hintergrund treten und die Dimensionen seiner Existenz in den Vordergrund treten lassen; ein Eingehen auf die Räume und Verhängnisse des menschlichen ICH. Wie sagte Blaise Pascal:
Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht allein in einem Zimmer zu bleiben vermögen.
Auch die Worte Senecas kommen in den Sinn:
Wer nicht weiß, wo er hinfinden will, dem kann man nur wünschen, dass er trotzdem sucht.
Wünscht man das? Suchen ist etwas Hilfloses, Suchen hat etwas Sinnloses an sich. So vieles, was Menschen suchen – Glück, Liebe, Sicherheit und Erfüllung – schwingt zwischen Illusion und Gewissheit hin und her und erreicht keinen konkreten Daseinszustand, keine Konsistenz.
Wie gesagt: Es ist bemerkenswert, wie diese ganze Problematik am Beispiel von Pontus Beg verhandelt wird, unaufdringlich, aber ohne, dass man den Ansätzen entkommt – vor allem, da der Text nicht sehr scheu in Bezug auf seine metaphysische Ausrichtung ist. Trotz seiner ganzen Wucht und seinem Existenzialismus ist das Buch nicht ganz aus der Sphäre der Erzählliteratur verbannt.
Eine ganz andere Form von Verlassenheit treffen wir im zweiten Handlungsstrang an. Sieben Menschen – fünf Männer, eine Frau und ein Junge – wandern durch die Steppe. Sie sind ausgehungert, halb-verdurstet und die Umgebung ist eine Art Alptraumlandschaft, fast eine Wüste, karg, voller Gräser, aber ohne Tiere, ohne viele Merkmale, nur voller endloser Horizonte. Sie kommen aus verschiedenen Ländern, sind verschieden weit gereist und haben nur eins gemeinsam: sie haben zusammen in einem Lkw die Grenze überquert und sind danach zusammengeblieben, sind hineingelaufen in die Steppe, um irgendwo hinzugelangen, in diesem neuen Land, in dem sie sich wähnen. Sie wissen nicht, wie lange sie schon unterwegs sind. Viele Seiten sind einfach ihrem Überlebenskampf gewidmet, dem Misstrauen, den Konflikten untereinander. Es gibt keine Solidarität, kein Zusammengehörigkeitsgefühl, nur die zugleich feste und lose Verbundenheit der Schicksalsgemeinschaft.
Nicht so routiniert, dass es eintönig wird, aber nah dran, folgt Kapitel auf Kapitel ihrer Odyssee, und nur sehr langsam zeichnet sich ein größeres Drama ab. Nicht reißerisch, ungeschminkt zwar, aber aufs Wesentliche konzentriert, funktioniert Tommy Wieringas Sprache (manchmal will sie vielleicht zu hoch hinaus). So macht sie die Stimmung spürbar, die diese Gruppe durchwinkt, sie zusammenhält und gleichzeitig auseinander fallen lässt. Diese Zeichnung gelingt, sie behält aber den leichten Tuch des Gemachten und auch des Abstrakten. Was aber wiederum zum metaphysischen Unterbau der Erzählung passt.
Es finden diese beiden Stränge gleichsam schon zusammen, bevor sie tatsächlich zusammenfinden: gleichnishaft im Exodus des Volkes Israel, also dem Auszug aus der Sklaverei in Ägypten und dem Aufbruch ins gelobte Land. Die ersten Worte des Buches Exodus, des zweiten Buches Mode, lauten:
Dies sind die Namen der Kinder Israel, die mit Jakob nach Ägypten kamen;
Diese Verquickung des Leidens eines Volks, das über 5000 Jahre hinweg immer wieder Gefangenschaft und Schlimmeres erleben musste, mit dem Leiden der Geflüchteten ist in zweierlei Hinsicht stimmig: Einmal aufgrund der gewaltigen existenziellen Dimension, die beide Fälle an sich haben (im Fall von Israel historisch und mythisch bedingt, im Fall der Geflüchteten wegen der sozialen Aufladung, der großen Präsenz im medialen und gesellschaftlichen Diskurs). Und zum anderen wegen dem Aspekt der Heimatlosigkeit, der dadurch betont wird. Viele Geflüchtete haben keine Heimat, in die sie zurückkehren könnten, selbst wenn sie wollten. Weil ein Krieg sie verwüstet hat, weil westliche Konzerne sie unbewohnbar gemacht oder das Auskommen dort schwer gemacht haben, weil Regierungen ihre Ethnie nicht als ihrem Land zugehörig empfinden und sie benachteiligen, sogar verfolgen, ermorden.
Dieser Anstoß zum Thema Heimat, er steckt verborgen in diesem Buch, sowohl in der Geschichte des Kommissars, der im Verlauf des Buches eine neue Heimat, eine neue Vergangenheit im jüdischen Glauben seiner Mutter findet, als auch in dem nur vorwärts gerichteten Denken der Geflüchteten, die durch die Steppe ziehen, um unbedingt ein neues Leben zu erreichen, eine Möglichkeit von Leben, weil hinter ihnen, in ihrer Vergangenheit, eine solche nicht mehr existiert.
Der ganze Aufbau dieses Gleichnisses, er ist etwas holprig – was man dem Autor aber verzeihen kann, aufgrund all der bleibenden Eindrücke und Bilder, die er aufwirft. Wegen des Geschicks, mit dem er Existenzielles und Gewöhnliche zueinander legt, konturlos aneinanderbindet. Ebenso gekonnt sind die fließenden, personellen Perspektivwechsel, die vor allem der Dynamik in den Kapiteln über den Marsch durch die Steppe zugutekommen. Ein ums andere Mal sind die Satzfolgen etwas zu sehr aufeinander abgestimmt, etwas zu schwer stützt sich ein Folgesatz auf die eher schlichte Ausführung des Vorgängers, als wollte der Autor mit Hilfe der Schwere unbedingt ein Ganzes erzeugen, eine Beschwörung der Relevanz. Das wäre nicht nötig gewesen. Da ist die Metaphysikbeflissenheit, die meistens den Ton bestimmt, sehr viel angenehmer. Und effektiver.
Nach ihrem Tod hatte er als erstes ihren Geruch vergessen. Dann ihre Stimme. Und bald darauf konnte er schon ihre Mimik nicht mehr wachrufen.
Stattdessen waren die Wörter gekommen. Dass sie liebevoll und aufbrausend gewesen war, mütterlich und dominierend. […] Nach und nach schrumpfte seine Mutter auf wenige Eigenschaften zusammen – ein Leben in Stichworten. Wörter hatten sie ersetzt.
Im Zentrum des Buches ist eine weitere Frage angelegt, die nach dem Sinn im „Leben“. Die Nichtigkeit, Heimatlosigkeit der Existenz, die die verschiedenen Handlungen durchzieht, der beflissene Ton, sie lassen natürlich Gedanken aufkommen, die den Sprengstoffgehalt vieler literarischer Gefüge ausmachen: Was bedeutet das und was kann das bedeuten: Leben? Eine Gewohnheit? Die Reaktion auf Reize und den eigenen Willen? Die unbedingte Sicherung der eigenen Existenz? Vergnügen und Erlebnisse? Hat Leben etwas mit Würde zu tun, um auf das Zitat von Orwell am Anfang zurückzukommen?
Es mag wie eine obsolete Frage erscheinen, aber auf all diesen Seiten, die sich mit der Trostlosigkeit und Entbehrung von menschlicher Existenz beschäftigen, bekommt man ein Bild davon, wie widrig sich eine Existenz abseits wohlstandsbedingter Bequemlichkeit ausnimmt. Alter, Krankheit, Tod und Vergessen, das sind Gebrechen, die alle Menschen gemeinsam haben, Auswüchse des Dilemmas, ein physischer Körper mit einem davon getrennten Geist zu sein. Aber gerade diese Nähe deckt wiederum die großen Diskrepanzen auf, die zwischen den Geflüchteten, dem Großteil der Menschen in Ländern wie denen des alten Ostblocks und mir selbst am heimischen Schreibtisch bestehen. Nein: keine Diskrepanzen zwischen mir und ihnen – zwischen meinen Lebensverhältnissen und ihren Überlebensverhältnissen.
Und die Frage warum das so sein muss … Warum musste das israelische Volk aus Ägypten fliehen? Weshalb gibt es Menschen, die so wenig Perspektive in ihrer Heimat haben, dass sie alles hinter sich lassen und versuchen, nach Europa zu gelangen? In einem Moment, da er mit der Absolutheitsanspruch der jüdischen Lehre konfrontiert ist, denkt Pontus Beg:
Wenn einer sich selbst definieren wollte, tat er das prinzipiell auf Kosten der anderen.
Ist nicht genau das geschehen? Hat sich die westliche Welt, egal ob kritisch oder reaktionär, nicht immer wieder auf Kosten der anderen definiert? Ein Anstoß zum Denken, mehr kann dieses Frage nicht sein.
Das Buch ist ein noch größerer Anstoß zum Denken, auch wenn es mit einem schwächeren Ende schließt – Metaphysik lässt meist keine guten Schlüsse zu. Aber das Buch enthält, wie immer, mehr als meine Ausführungen zu Tage fördern können, und ich konnte nur auf einige wenige Aspekte und Ideen eingehen, die mir drängend erscheinen. Ich hoffe, es reicht, bei aller Fragilität, dass die Bedeutung hervorgestrichen bleibt.
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