Poetische Schattenspiele
Man kann den Gegensatz Licht / Schatten trivial oder elementar finden, je nach Perspektive. Aber allein dieser Gegensatz im Gegensatz sollte Grund genug sein, um einen Blick in den 18. Band der Literaturzeitschrift „Das Gedicht“ zu werfen. „Die Poesie von Licht und Schatten“ heißt das von Anton G. Leitner und Ulrich Johannes Beil edierte Werk.
„Gedichte reflektieren die Widersprüche der Gegenwart“, schreibt Ulrich J. Beil und legt damit die eigentliche Stoßrichtung des Buches fest. Wenn auch Licht und Schatten durch den ganzen Band hindurch immer wieder in mannigfaltigen Variationen auftauchen, so stehen sie doch vor allem symbolisch für die Gegensätzlichkeiten, von denen die menschlichen Lebens- und Gesellschaftsstrukturen geprägt sind, und die sich nur vordergründig in klare Schwarz-Weiß-Grenzen spalten lassen. Bei genauerem Hinsehen lösen sich die Gegensätze auf, fließen ineinander, eröffnen den Blick auf Neues.
„Zwischen Asien und Europa brüllt / die Sonne“ heißt es in einem Gedicht von Björn Kuhligk unter dem schlichten Titel „Bosporus“. Der Bosporus, überhaupt die Stadt Istanbul, ist ein wunderbares Beispiel für diese Formen der Gegensätzlichkeit. Man findet dort alles: Klar gezogene, aber dennoch erst auf den zweiten Blick sichtbare Grenzen direkt neben der kulturellen Vermählung von Gegensätzen. In einem Ruhe (vielleicht Ruhe vor dem Sturm) verströmenden Gedicht von Ilma Rakusa bricht sich das Licht an Steinen, und bei Anna Real gehen Dichtung und Natur ineinander über. Unter Verwendung einiger Verse von Novalis zeichnet Christoph Wenzel eine „Kreidephysik“: „fehlen dir jetzt verstand und verständnis / für eine doppelte natur von welle + teilchen“. Jan Wagner schreibt eine „Geschichte der Finsternis“ („beginnt mit flüstereien und gerüchten“), und Anja Tuckermann seziert augenzwinkernd den umgangssprachlichen Superlativwahn.
Neben etablierten Stimmen wie Durs Grünbein, Friederike Mayröcker, Said, Axel Kutsch, Matthias Politycki, findet man auch Dichternamen, die man noch nicht kennt. Auch ganz junge Lyriker kommen zu Wort. Herausragend unter ihnen der gerade erst 18jährige Leander Beil, der scheinbar mit jedem Gedicht besser wird, und dem in so jungen Jahren bereits gelingt, was andere Dichter ein Leben lang nicht schaffen: einen ganz eigenen, unverkennbaren Ton und Rhythmus zu entwickeln, der sich deutlich von der Masse abhebt.
Der 18. „Gedicht“-Band ist sehr rund. Sicher wird nicht jedem alles darin gefallen, manch ein Gedicht erscheint doch gar zu simpel gestrickt, aber vielleicht ist gerade das gut so. Während viele in der Lyrikszene sich in elitärer Abschottung ergehen, haben Leitner und Beil ihre Zusammenstellung so konzipiert, dass sie auch für Menschen interessant sein kann, die von komplizierterer Lyrik eher abgeschreckt würden. Die beachtlichen Verkaufszahlen der Reihe scheinen das zu bestätigen, haben aber auch viel mit der wirklich hervorragenden und hingebungsvollen Marketingarbeit Leitners zu tun, der nicht nur weiß, wie man eine Publikation präsentieren muss, sondern auch mit Begriffen wie Social Media und Web 2.0 vertraut ist (ein Blick lohnt sich in die bei Youtube präsentierte Videoanthologie).
Ergänzt werden die Gedichte mit Essays und Interviews, die einen Schwerpunkt auf soziales Engagement legen. Ulrich J. Beil weist auf die immer extremer werdenden Gegensätze zwischen arm und reich hin – auch das erscheint vielen heute als banal, es rauscht im Fernsehen an den Menschen vorbei, man weiß es, aber man schaut lieber nicht richtig hin, denn man könnte ja an die eigene Verantwortung erinnert werden. Umso mehr ein Grund, um die politisch fabrizierte Gerechtigkeitsschieflage auch und vor allem in der Literatur wieder und wieder zu thematisieren. Sehr aktiv ist derweil Sissi Pöschl, die im Interview Einblick in ihre Entwicklungsarbeit in einem der ärmsten Länder der Welt gibt: Ecuador.
Matthias Kehle schrieb kürzlich in seinem Blog, er hielte Lyrik für „zu unerheblich“, um sich mit Politik zu beschäftigen und Lyriker, die es täten, nähmen sich selbst zu wichtig. Wenn man dieser Perspektive folgt, dann kann man Shakespeare, Heine, Brecht und viele andere auf den Müllhaufen der Literaturgeschichte befördern. Wenn man ihr folgt, dann kann man die Lyrik in Gänze abschaffen, denn wenn sie für Politik „zu unerheblich“ ist, dann ist sie es generell. Eine solche Aussage verkennt auch völlig, welch enorme politische Bedeutung Lyrik in einigen Ländern der Welt heute noch hat
Dass Dichtung der bildungsfernen und sozialschwachen Obrigkeit, die sich in den Ämtern und Parlamenten tummelt, bis heute auch in Deutschland ziemlich missfallen kann, hat Anton G. Leitner im Zuge der Veröffentlichung seiner Kirchentagsanthologie „Die Hoffnung fährt schwarz“ erleben müssen. Ein ganzes Bündel dieser selbsternannten Sittenwächter echauffierte sich hinter seinem Rücken, offenbar nachdem ein mäßig begabter Hobbydichter aus ihren Kreisen abgelehnt worden war. Man schoss sich dann erst auf einzelne Gedichte, später auf die von Leitner herausgegebenen erotischen Anthologien ein. Es fielen Begriffe wie „obszön“, „desorientiert“, „schwachsinnig“. Das ist das Diskursniveau, das man von solchen Personen gewohnt ist. Interessant ist allemal, dass sie sich aufhängen an Titeln wie „Heiß auf Dich“. Anstelle staubiger Amtsstuben wäre manch einer bei einem Sexualtherapeuten wohl besser aufgehoben.
Alle anderen sollten sich mit einem guten Wein zurücklehnen und sich das neue „Gedicht“ zu Gemüte führen. Der Band ist unterhaltsam, abwechslungsreich und hier und da sogar politisch und sozial engagiert. Was will man mehr?
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