Schluss mit der Mär der egoistischen und geldgierigen Furie
„Er lag bewegungslos, mit bereits geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ich sprach ihm leise, voller Zärtlichkeit ins Ohr, in der Hoffnung, er könne es noch hören, daß ich die ganze Zeit in Astapowo gewesen sei und ihn bis zum Schluß geliebt habe …“. Mit diesen Worten erinnert sich Sofja Andrejewna Tolstaja in ihrem Tagebuch an die letzte Begegnung mit ihrem Mann Lew Tolstoj nach seiner Flucht von dem gemeinsamen Gut Jasnaja Poljana. Der zärtliche Ton dieser Worte will so gar nicht in das Bild der geldgierigen, egoistischen und hysterischen Frau passen, wie Tolstaja bisher in der Literaturgeschichte beschrieben wurde. Dieses Bild ist schlichtweg falsch. Zu dieser Erkenntnis gelangt, wer die hervorragende Biografie „Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs“ von Ursula Keller und Natalja Sharandak liest. Darin zeichnen die beiden Autorinnen anhand bislang unveröffentlichter Dokumente das Bild einer hoch gebildeten und emanzipierten Frau, die ihr Leben der Familie und dem literarischen Erfolg Tolstojs gewidmet hat.
Im Zentrum stehen dabei die persönlichen Aufzeichnungen der beiden Tolstojs, die mithilfe ihrer Tagebücher eine seltsame Form der Kommunikation in ihrer Beziehung eingerichtet hatten. Schonungslos offen vertrauten sie den stummen Seiten ihrer Journale ihre Gefühle und Gedanken an, um anschließend den Partner diese lesen zu lassen. Vieles im Hause Tolstoj blieb ungesagt, aber kaum etwas unnotiert und ungelesen. Die unzähligen Notizbücher erzählen davon.
Die Tochter des kaiserlichen Hofarztes Andrej Jewstafjewitsch Behrs und seiner Frau Ljubow Alexandrowna wurde am 22. August 1844 als eines von acht Kindern in der Nähe von Moskau geboren. Sie wächst in der Tradition der russischen Intelligenzja auf, beschäftigt sich mit Kunst und Kultur, verkehrt schon als junge Dame in höheren Kreisen und legt nach einem erfolgreichen Schulabschluss an der Moskauer Universität ein Examen als Hauslehrerin ab. Da ein höheres Universitätsstudium nicht möglich ist, erhält sie zu Hause Privatunterricht und lernt unter anderem Französisch. Sie verkehrt in universitären Kreisen, lebt eine emanzipierte Jugend, besucht Theatervorstellungen und Lesungen.
Lew Tolstoj kennt sie schon seit ihrer Kindheit, denn er ist ein Freund der Familie. Anfang der 1860er-Jahre ist er der begehrte Kandidat für eine Hochzeit mit der ältesten Tochter des Hofarztes, Lisa, und zunächst scheint er auch nicht ganz abgeneigt zu sein. Im Sommer 1962 hält er sich zum wiederholten Male in Moskau im Kreise der Behrs auf und Sofja spürt, wie sich erstmals tiefe Gefühle für den jungen „Comte“ in sich regen. Sie gerät in einen Gewissenskonflikt, denn „Vater Behrs ist ungehalten, dass Tolstoj seiner Ältesten nicht endlich, wie es die Konventionen verlangen, den lange erwarteten Antrag macht.“ Sofja weiß, warum dies nicht geschieht: Seit Tolstoj eine ihrer Erzählungen gelesen hat, ist seine Leidenschaft für die junge Frau entbrannt. In der Folge entwickelt sich zwischen den beiden eine zärtliche Romanze. Schließlich macht ihr der 16 Jahre ältere Tolstoj einen Heiratsantrag und sie willigt überglücklich ein. Doch vor der Ehelichung will Tolstoj noch reinen Tisch machen, der kindlich-unschuldigen Sofja noch seine lasterhafte Vergangenheit gestehen. Er gibt ihr seine Tagebücher voller Berichte seiner sexuellen Obsessionen und seiner Spielsucht zu lesen. Höchst verstört und unsicher, wer die Person Lew Tolstoj wirklich ist, heiratet Sofja Andrejewna Behrs den Schriftsteller am 23. September 1862.
Gemeinsam ziehen sie nach der Trauung auf das Gut der Tolstojs. „Jasnaja Poljana! Wer gab dir deinen schönen Namen?“ notiert Sofja angetan von der Schönheit der Natur nach ihrer Ankunft auf dem Land. Doch noch immer verstört sie Tolstojs ausschweifendes Vorleben. „Die ganze Vergangenheit meines Mannes ist so furchtbar für mich, dass ich mich wohl niemals mit ihr abfinden kann.“ Tatsächlich wird Tolstojs lasterhafte Vergangenheit zu den immer wiederkehrenden Verbitterungen gehören, die Sofja in den unglücklichen Momenten ihrer fast fünfzigjährigen Ehe mit Tolstoj einholen. Insbesondere wenn sie seine Werke Korrektur liest und ins Reine schreibt, zeigt sich die Tiefe ihrer Verletzung: „Ich las den Anfang eines seiner Werke, und überall, wo es um Liebe geht, um Frauen, ist es mir abscheulich, schwer, ich würde am liebsten alles, alles verbrennen. Damit nichts mich an seine Vergangenheit erinnerte. Und es täte mir nicht leid um seine Werke …“.
In der Geburt von Kindern und der Führung des Haushalts sieht Tolstoj die Bestimmung der Frau, Emanzipation ist ihm verhasst. Sofjas eheliche Pflichten bestehen darin, ihm willfährig zu sein, seine sexuellen Leidenschaften legt er Zeit seines Lebens nicht ab. In den ersten 26 Jahren der Ehe schwängert er seine Frau 16 Mal. Noch 1889 schreibt er in einem Brief an seinen Sekretär Tschertkow über seine sexuellen Begierden: „Ich kann vor allem dieses Problem nicht so rasch überwinden, denn ich bin ein widerlicher, geiler alter Mann.“
Das die zahlreichen Schwangerschaften und schweren Geburten Sofjas Gesundheit in Gefahr bringen interessiert den begierigen Dichter nicht. Bei einer Geburt stirbt sie fast, danach verliert sie drei Kinder durch Fehlgeburten, fünf weitere muss sie im Laufe ihres beschwerlichen Lebens zu Grabe tragen – Bürden, die sie oft allein tragen musste und sie immer wieder in tiefe Depressionen stürzten. Tolstoj legte ihr das als „weibische Schwäche“ aus. Als sie die Geburt des fünften Kindes nur knapp überlebt und danach auf weitere Schwangerschaften auf Anraten der Ärzte verzichten möchte, ist das für Tolstoj unannehmbar und er droht mit der Trennung. Ihren Ängsten vor einer erneuten Schwangerschaft lässt er keinen Raum.
Lange Zeit interessierte sich Tolstoj überhaupt nicht für die Leidenschaften und Talente seiner Frau: „Sein Verhalten mir gegenüber unterdrückte alle meine Begabungen, macht mich oft mutlos und ließ mich die Freude am Leben verlieren“, notiert Sofja. Erst als sie Tolstoj bei seiner literarischen Arbeit unterstützen und seine Aufzeichnungen nach den anstrengenden Tagen nachts ins Reine schreiben darf, blüht Sofja wieder auf. Jahrzehntelang wird sie die einzige bleiben, die Tolstojs wild niedergeschriebene Romannotizen, Korrekturen und Änderungen zu ordnen weiß.
Doch auch die Literatur kann nur zeitweise über die Öde der russischen Steppe hinwegtrösten. „Etwas ist zwischen uns getreten, ein Schatten der uns trennt …“, schreibt Sofja 1870 in ihr Tagebuch. Es zieht sie zurück in die Stadt: „Ich will Fröhlichkeit, leere Plauderei, ich will elegante Kleider, will gefallen, will, daß man mir sagt, daß ich schön bin.“
Als ein Leben des Verzichts zeichnen Keller und Sharandak das Dasein der Tolstaja in ihrer erhellenden und bilderstürzenden Biografie. Die kulturellen Vorzüge der Stadt, die persönlichen literarischen Ambitionen, die eigene Gesundheit und die banalsten Bedürfnisse – all das stellt Tolstaja hinter die Ansprüche ihres asketisch lebenden Mannes zurück. Die Lasten der Familie und der Haushaltsführung trägt sie allein. Als am 30. Oktober 1875 das dritte Kind innerhalb von zwei Jahren stirbt, ist Sonja Tolstaja am Ende ihrer Kräfte. Lew Tolstoj bewegt das kaum, ist von seinem Erfolg mit „Krieg und Frieden“ völlig eingenommen. „Bei uns herrscht eine solche Trauer, und zugleich werden wir überall gefeiert“, kann man in Tolstajas Tagebuch in dieser Zeit lesen. Tolstoj hingegen beklagt ihren weinerlichen Zustand: „Es gibt nichts Schlimmeres für einen gesunden Mann, als die Krankheit seiner Ehefrau. Ich habe diesen Zustand im vergangenen Jahr durchlitten und leide noch immer daran.“ Kein Wort des Trostes, stattdessen Selbstmitleid. Immer wieder kommt es im Laufe der Ehe zu solchen Situationen, in denen der Dichter das Ertragen der aus seiner Sicht unverständlichen „Launen“ seiner Frau als das größere Leid ansieht.
Zugleich ist die Ehe in all den Jahren von einer erstaunlichen Liebe geprägt, die mit größer werdendem Abstand wächst und in der Enge Jasnaja Polnajas auf ein Minimum zusammenschrumpft, zuweilen sogar in Abscheu umschlägt. Die Verbindung ist ein ständiges Auf und Ab. Der alles Negative zudeckende Kitt ist die gemeinsame literarische Tätigkeit. Bei den diesbezüglichen Ausführungen zeichnen Keller und Sharandak auf faszinierende Weise die komplexen Parallelen zwischen Werk und (Er-)Leben in der Familie Tolstoj und die sich daraus ergebenden existenziellen Streitigkeiten des Paares nach, wie zum Beispiel im Falle der Kreutzersonate: „Sie [Die Kreutzersonate] hat mich vor den ganzen Augen der Welt gedemütigt und den letzten Rest von Liebe zwischen uns zunichte gemacht.“
Für das Verhältnis der Tolstojs zueinander ist das literarische Vermächtnis Tolstojs natürlich zentral. Nachdem Sofja jahrelang faktisch als seine Sekretärin tätig war, bevollmächtigt Lew Tolstoj seine Frau, die Vermögensangelegenheiten und Drucklegung seiner Werke eigenverantwortlich zu führen. Sofja wird seine Werke erfolgreich verlegen, die Preise dabei jedoch anheben. Dies kollidiert mit Tolstojs Hinwendung zu den einfachen Arbeitern und Bauern und ihren Lebensumständen, denen er zwischenzeitlich das gesamte Familienerbe samt Werkrechten schenken will. Mit viel Aufwand und Geduld weiß Sofja das zu verhindern. Während sich Tolstoj mit system- und gesellschaftskritischen Texten für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzt und zur Ikone der russischen Unterschicht wird, avanciert Sofja in Verantwortung für die riesige Familie zur erfolgreichen Geschäftsfrau. Immer wieder gerät das Paar darüber in Streit.
Hinzu kommt, dass Tolstoj immer schlechter über seine Ehe und die Frauen als solche schreibt. Sein Spätwerk ist nur am Rande literarisch, stattdessen wendet er sich zunehmend sozialen und religiösen Fragen zu, wobei er auch immer wieder auf einen angeblich schlechten Einfluss der Frau auf die Seelische Reinheit des Mannes zu sprechen kommt. Um ihn herum bildet sich eine Gemeinde asketisch-radikaler Tolstojaner, die immer stärker in das Leben der Familie auf dem Gut eindringen. Für Sofja und die gemeinsamen Kinder bleibt kaum noch Zeit, und wenn, verbringen sie diese mit Streit – über den Lebensstil und die moralischen Ansprüche Tolstojs angesichts seines bequemen Lebens.
Diese Streitigkeiten nehmen in der letzten Dekade der Ehe extrem zu, kulminieren schließlich im offenen Konflikt zwischen Tolstaja und den Jüngern des Schriftstellers rund um seinen Sekretär Tschertkow, der Sofja Tolstaja die Rechte an Tolstojs Werken abspenstig machen und das Familienerbe an die Armen Russlands verteilen will (nachzulesen in dem hervorragend verdichteten Perspektivenroman „Tolstojs letztes Jahr“ von Jay Payrini). Der Dichter selbst hält sich aus diesem Konflikt heraus, ergreift keineswegs Partei für seine Frau, die fast 50 Jahre seine Launen und Egoismen ertragen hat. Im Gegenteil, er hintergeht sie sogar und lässt sie bei Tschertkow ins offene Messer laufen.
Am Ende flieht Tolstoj in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Frau, die ihm 13 Kinder geboren, die Entstehung seiner wichtigsten Werke mit vorangetrieben und sein bankrottes Gut zu einer florierenden Kolchose ausgebaut hat. Er kommt bis Astapowo, wo er am 7. November 1910 in dem Bahnhofshäuschen des Ortes an einer Lungenentzündung stirbt – Sofja muss vor der Tür warten, darf während seiner letzten Atemzüge nicht bei ihm sein. Ihr Schmerz ist dennoch immens: „In mir war alles Leben erstarrt“, kommentierte sie den Moment des Verlusts.
Diese neue nun auch als Taschenbuch erschienene Biografie zu Leben und Leid der Sofja Andrejewna Tolstaja ist ein Meilenstein in der Tolstoj-Forschung, denn sie wirft ein völlig neues Licht auf Rolle und Selbstverständnis der Schriftstellergattin – und damit auf den Dichterfürsten Lew Tolstoj und sein Werk. Das Tolstoj-Bild des unter einer gierigen und rücksichtslosen Furie leidenden Dichters ist rechtzeitig vor seinem 100. Todestag gestürzt worden. Diese Biografie stellt aber keineswegs den plumpen Versuch dar, die Tolstaja auf Kosten von Russlands berühmtestem Schriftsteller reinzuwaschen. Ganz im Gegenteil, werden doch auch hier aus verschiedenen Blickwinkeln die Verfehlungen und Schwächen der Dichtergattin ungeschönt präsentiert. Damit ermöglichen Keller und Sharandak erstmalig einen umfänglichen und differenzierten Einblick in das (Seelen-)Leben der Sofja Tolstaja, die alle vorstellbaren Höhen und Tiefen durchlebte und diese zum Großteil mit sich allein ausmachen musste. Das Ergebnis ist ein neuer Blick auf das Ehe- und Schriftstellerpaar Lew und Sofja Tolstoj, der nun nach einer Überarbeitung aller den Dichter bejubelnden oder seine Frau verteufelnden Tolstoj-Biografien verlangt.
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