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Kritik

Auf dem Dorf

Hamburg

Vea Kaiser hat eine ungemein amüsante Dorfgeschichte geschrieben. „Blasmusikpop“ verdient deshalb größtes Lob und viele Leser

Dass Kunst belehren und unterhalten soll, gilt als überholtes Diktat. Kunst soll heute Fragen stellen und Mühe machen, sie ist Verwirrspiel und tiefsinniges Spektakel, sie ist dem ästhetischen Genuss überlassen, bei dem zu fragen wäre, was denn daran Genuss zu nennen ist, wenn die Genießenden so befremdlich gelangweilt aussehen. Aber das ist wahrscheinlich auch nur polemisch? Aber egal. Solange das dämlichste Event noch mit dem Kunstcharakter hausieren geht, ist auch das erlaubt. Und solange noch Irrsinnige Kunst in den öffentlichen Raum stellen, bei denen jeder einigermaßen aufrichtige Mensch vor Scham in den Boden sinken müsste, solange darf man auch polemisch sein.

Nebenbei bemerkt, US-amerikanische Filmstatuen, wie sie am Ende von „Postman“ oder dem letzten „Batman“ zu sehen sind, sind der beste Beweis dafür, dass schlechte Kunst ein Weltphänomen und sogar urban sein soll. Berlin macht da übrigens keine Ausnahme.

Aber zurück zur Unterhaltung und zu Vea Kaiser: Dass, sobald man sich amüsiert, von Kunst die Rede ist, resp. davon dass auch Unterhaltung Kunst ist, ist wohl ein eingeübter Reflex, der mit schlechtem Gewissen und Konvention zu tun. Aber reicht es nicht einfach festzuhalten, dass diese Vea Kaiser einfach nur gut gearbeitet hat? Sagen wir, gutes Handwerk, genauer Tippwerk. Und das soll man loben.

Dabei sind diese knapp 500 eng bedruckten Seiten deutlich aufwendiger gemacht, als ihnen anzulesen ist. Denn vielen Autorinnen und Autoren geht gerade beim Erstling auf halber Strecke die Puste und zumeist auch der Stilwillen aus, weil die Kraft fehlt oder auch nur die Konzentration. Nichts davon bei Vea Kaiser.

Der Roman ist in einem großen Tempo geschrieben, treibt seine Handlung mit großen Schritten voran, und verweilt doch bei vielen kleinen Momenten, die, ach so schön, ach so amüsant, das Verweilen auch wert sind. Die zahlreichen skurrilen Figuren sind zugleich höchst liebenswert.

Die Protagonisten wechseln – vom Großvater zum Enkel, von Doktor Opa zu Doktor Enkel, und damit auch von der Medizin und Naturwissenschaft zur Antike und zur Geschichtsschreibung. Und am Ende steht ein großes Fußballfinale.

Die Geschichte beginnt mit einem Unfall, der den jungen Holzschnitzer Johannes Gerlitzer eine Weile außer Gefecht setzt, und mit einem über 14 Meter langen Fischbandwurm, der ihm mächtig zusetzt. Als er ihn endlich los ist (eingelegt in Spiritus macht er deutlich weniger Ärger), fängt sein Leben erst richtig an, und zwar als Mediziner und Naturforscher, mit Schwerpunkt Parasiten. Er verlässt Frau und Kind und geht in die Stadt, was für St. Peter am Anger eine Ungeheuerlichkeit ist. Denn man legt Wert darauf, dass man hier mit den Leuten in der Welt draußen möglichst wenig zu tun hat.

Nach Jahren kehrt der mittlerweile promovierte Johannes wieder nach St. Peter zu Frau und Tochter zurück, wird zum Dorfarzt und beginnt einen langen Kampf mit der Tochter, die seinem benachbarten Erzfeind nur so verblüffend ähnlich sieht. Woher nur?

Wenn freilich das Verhältnis mit der Tochter misslungen ist, desto besser wird dies mit dem Enkel, der gleichfalls Johannes heißt. Die beiden haben einander gefunden, und wäre der Großvater nicht so früh bei einem Bergrutsch zu Tode gekommen (gemeinsam mit seinem Lieblingsfeind), so hätten beide noch viele schöne Jahre gehabt.

So muss der Enkel sich allein ins Leben kämpfen, und auf seine Art das Erbe des Großvaters antreten. Wo der sich den Spulwürmern widmete, wendet sich der Enkel dem merkwürdigen Treiben in seinem Dorfe zu, das er wie sein antikes Vorbild Herodot erforschen will.

Dass es beim teilnehmenden Beobachter nicht bleibt, sondern der jüngere Johannes zum Schriftführer des örtlichen Fußballvereins und zum Zentralorganisators des wohl größten Dorfereignisses aller Zeiten, nämlich eines Freundschaftsspiels mit dem FC St. Pauli, heranwächst, ist allen Seiten zu gönnen.

Ein bisschen trocken der Bericht? Immerhin sind in etwa fünfzig Jahre zu beschreiben, vom jungen Schnitzer bis zum jungen Herodot- Nachfolger, von den 1950ern bis in die Gegenwart. Und diese Geschichte füllt viele, viele Seiten, und jede liest sich gut.

Das ist nicht wie in einer Chronik heruntergeleiert, sondern voller Sprachwitz, Situationskomik und sehr präzise erzählt. Das ist ein Buch, das verschlungen sein will – von denen, die es aus dem Dorf in die Stadt getrieben hat, und von denen, die sich aus der Ferne ein Faible für die abgelegenen Orte bewahrt haben. Dass sie nicht allzu fern sind, zeigt eben dieser Roman (auch wenn Österreich vom hohen Norden weit genug entfernt ist). Selbst Bajuwaren werden das Buch aber mögen, das sowieso im rheinischen Köln verlegt wird.

So international geht es im deutschsprachigen Raum also zu, wenn es um gute Literatur geht. Frau Kaiser ist jedenfalls für das feine Buch zu danken, und dem Verlag dafür, dass er es präsentiert hat, und fixpoetry, dass ich es lesen durfte. Ich wäre nicht von allein drauf gekommen.  Manchmal hilfts aber und seis dabei, die Zeit angenehm zu vertreiben, Aufgaben zu übernehmen, und sei es die, eine Besprechung zu schreiben.

Vea Kaiser
BLASMUSIKPOP
oder wie die Wissenschaft in die Berge kam
Kiepenheuer & Witsch
2012 · 496 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-462044645

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