Die Kehrseite des Staunens
Mit „Überall Welt“ legt Volker Sielaff, der bislang drei Gedichtbände veröffentlicht hat, ein Buch vor, in dem anstelle von Versen, Gedichten und Zyklen erstmals kurze Prosa-Texte zu finden sind. Recht unterschiedliche persönliche Erfahrungen, Natur- und Sprachbeobachtungen, Gedanken aus den Jahren 2004 bis 2015 sind auf knapp 150 Seiten versammelt. „Überall Welt“ bezeichnet sich als Journal, als Tagebuch. Auf den ersten Blick ist dafür die Datierung recht dürftig: Nur wenige Einträge sind mit einem genauem Datum versehen, am offenkundigsten teilen die Jahreszahlen den Strom der Notate auf. Im Verlauf der Lektüre bemerkt man, dass immer wieder die Jahreszeiten in kurzen Momentaufnahmen hervortreten und so eine ungefähre zeitliche Orientierung ermöglichen. Die Einträge sind zumeist knapp gehalten: Mehrere durch Gedankenstriche getrennte Notate stehen auf einer Seite. Durch diese Textgestalt lässt „Überall Welt“ bereits visuell erahnen, dass es hier nicht darum geht, aus einem Lebensabschnitt einen roten Faden zu extrahieren, indem man heterogenen Erfahrungen nachträglich eine argumentative Ordnung aufdrückt. Auch keine Selbstabrechnungssuada darf man erwarten oder eine weitschweifige Belehrung über Gott und die Welt, die sich aus privaten Erlebnissen und Ansichten speist.
In der Vorbemerkung teilt der Autor mit, er habe zwar aus dem über die Jahre zusammengekommenen Material selektiert, die Notate selbst aber nicht verändert. Anlass für diese Aufzeichnung sei der Wunsch gewesen, „den Dingen etwas von ihrer Einfachheit zurückzugeben“, in einem Interview mit Telegramme für Literatur spricht Sielaff davon, das Buch feiere das Leben in seiner Fülle. Es stellt sich recht schnell heraus, dass der Fokus hierfür am häufigsten auf dem Leben mit einem Kind landet und nicht zuletzt der Erfahrung, dessen Spracherwerb zu begleiten:
„Das Kind, als es bemerkt, wie einer dem anderen das Wort abschneidet: »Er redet ihm in die Wörter rein.«“
„Überall Welt“ beginnt mit Impressionen einer Reise, irgendwo im Süden: Ein „er“ und eine „sie“ lieben sich (vermutlich), „sie“ ist schwanger. Einige weitere Reisen werden geschildert, man verfolgt die Entwicklung des Kindes und der Elternschaft, steigt in Gespräche ein, Erinnerungen an frühere Lektüren kommen hoch … Sentenzen, Zitate, Zen-Weisheiten …. die Notate nehmen unterschiedliche Formen an. Immer wieder bleibt der Journalschreiber auch an der Verwendung der Sprache in seiner Umwelt hängen:
„X sagt, ich stünde auf ihrer »Prioritätenliste« ganz oben – und darauf meine heftige Unlust mich mit ihr zu treffen.“
Wenn man „Überall Welt“ nun als Fundkiste versteht, ist man vermutlich hier und da über eine Beobachtung erfreut, blättert weiter und meint, sich manchmal wiedererkennen zu können oder reagiert teils mit Kopfschütteln, teils mit zustimmendem Nicken auf eine Definition wie
„Liebe: den anderen in seiner Selbstverlorenheit sehen können.“
So verweigerte man sich jedoch der erzählerischen Eigendynamik von „Überall Welt“, die sich bei einer linearen Lektüre immer mehr Bahn bricht und die Kleinode in ein anderes Licht rückt. Was hält all die kleinen Ganzheiten zusammen? Was wird um ihretwillen ausgespart? Im Verlauf des Buchs, der Tage und Jahre, blitzen einige Motive und Themen immer wieder auf, sodass man den Eindruck gewinnt, die trennenden Gedankenstriche stehen nicht so sehr für ein entspannendes Ein- oder Ausatmen, sondern markieren ein Schweigen, machen auf etwas aufmerksam, das nicht aus-erzählt werden soll, etwas, wo wohl auch viel Welt drin steckt. Sielaff ist dabei anzurechnen, dass er sich auf seine Wahrnehmungen keinen Reim macht, sondern in der offenen Form seines Journals zulässt, dass der „lyrische“ Charakter der Einzelheiten im fortschreitenden Text eine andere Färbung bekommt. Es kommen Fragen auf: Wann nutzt der Journalschreiber unverblümt ein „ich“ und wann doch lieber ein „er“? Tritt „sie“ nach einiger Zeit nicht immer mehr in den Hintergrund, verschwindet fast völlig? Worin liegt wohl der ungenannte Grund, wenn der Journalschreiber unvermittelt auf sich selbst zurückgeworfen wird:
„Einer werden, dem es nicht ansieht. Was nicht ansieht? Es. Früher konnte es mir jeder ansehen. Aber dann bin ich endlich einer geworden, dem man es nicht ansieht.“
Indem das Buch seinen Leser mit so vielen Erscheinungen am Rande in Berührung bringt, lässt es aus einer Mitte ein Schweigen wachsen, ein Schweigen, das sich nicht in den kleinen, feinen Ganzheiten fassen lässt. Und umso mehr kleine, feine Momentaufnahmen an einem vorbeiziehen, fallen schließlich die Notate ins Gewicht, in denen Unbehagen, Unsicherheit, Zerrüttung ins Spiel kommen und auf eine Erzählung unterhalb verweisen:
„»Wenn sie mir jetzt verloren ginge, würde ich nicht zusammenbrechen«“
„Zum Abschied drückte er ihren Arm, aus Feigheit, sie zu schlagen.“
Lyrisch oder poetisch zu sein – was auch immer man darunter verstehen mag – ist eine Qualität, die man den Texten Sielaffs zwar vordergründig anrechnen kann, das Entscheidende jedoch ist die Spannung zwischen der Suche nach Bildern, dem Besonderen, den vielsagenden Kleinigkeiten und einem Schweigen, das sich aus einer Erzählbewegung immer wieder zwischen die Einträge schiebt und ein rundes Bild nicht zulässt, sodass die in knapper Prosa evozierten Stimmungen nie ganz in unschuldiger Harmonie versinken.
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