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Kritik

Aus einem hinterlassenen Tagebuch

Walter Müller extrahiert die Dimension der Geschichte

Die Zweite Weltkrieg ist ein Jahr alt, noch sind die Folgen in Salzburg nicht allzu gravierend. Jedenfalls nicht für die jungen Leute. Grete Schöner ist grad erst 17 geworden und ein richtiger Backfisch im Strudel der Gefühle, damals im November des Jahres 1940. Für das Winterhilfswerk heiratet sie dreimal an einem Tag. Das ist ein Jux, macht Spaß, dient aber auch einem guten Zweck, der Geldbeschaffung für das Militär, was die Angelegenheit zusätzlich legitimiert. Grete ist lebenslustig, ihre Freundin, die Kamlander Anni, ist noch viel frecher und mutiger, sie pfeift sich nichts, will ihr Leben erleben, im Kino und beim Küssen mit den jungen Burschen, schließlich muss ein Mädel richtig küssen können. Wenn sich einer findet, der die beiden einlädt, sind sie gleich dabei. „Irgendwo in England“ ist ein Verwandter gefallen.

Der Werner ist Gretes Bruder und derart begeistert von den Trapezkünstlern im Zirkus. So etwas möchte er auch können. In der Waschküche spannt er ein Seil zwischen Fensterkreuz und Wand, tastet sich in kleinen Schritten vorwärts, eigentlich müsste die Sache funktionieren, um bei der Hella, seiner Arbeitskollegin in der Setzerei, Eindruck zu erwecken.

Der Salzburger Autor Walter Müller taucht tief ein in die Geschichte seiner Vorfahren, fasziniert von der Zeit und den Personen. Da gibt es den gutmütigen Herrn Lutz aus der Druckerei, der kein Hehl macht, dass er die Nazis nicht mag. Das Umfeld einer durchschnittlichen Familie wird zu einem exemplarischen Fallbeispiel. Das Tagebuch seiner Mutter Grete, geschrieben zwischen 1940 und 1941, sowie ein paar Dokumente und Fotos dienten Walter Müller dazu, ein Zeitdokument zu gestalten. In knappen Episoden wird das Panorama einer schrecklichen Zeit dokumentiert. Wie in einem Film wechseln die Szenen zwischen heiter und ernst, gewürzt mit liebenswürdigen Details, rücken die Personen durch das Stilmittel des Dialogs näher zum Leser, zur Leserin. Kleinigkeiten des Alltags, Ärger und Freude, konterkarieren den Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft.

Maria ist die Mutter von Grete und Werner, bereits geschieden vom 1. Franz und nun mit dem 2. Franz zusammen, den die Kinder nicht Vater nennen, „da kann die Mutter noch so sehr bitten.“ Geheiratet wurde erst am Abend bevor der 2. Franz einrücken musste. Vielleicht um zu imponieren oder von seinem Stiefvater nicht als Feigling gesehen zu werden, meldete sich Werner mit 16 Jahren freiwillig zu den Gebirgsjägern. Beide werden nicht mehr aus dem Krieg heimkehren. Der 1. Franz dagegen glaubt nicht an die „große Zeit“, laviert sich durch und überlebt.

Die „beklopfte Lisa“ hängt an ihrem Hund. Einem Nazigesetz entsprechend, wird ihr der Ralph „für Kriegsverwendung bei Wehrmacht und Polizei“ weggenommen und landet im Hundezwinger. Mit einem neuen Hund kann sie sich nicht anfreunden, quält ihn, obwohl der nichts dafür kann, dass die Nazis ihren Ralph erschossen haben. Von ungenannten Mutigen, vielleicht Naiven, jedenfalls von einigen, die nicht gekuscht haben, dem jungen Mann, der Ralph befreien wollte und dabei einiges riskierte, finden sich markante Spuren in dem Roman „Kleine Schritte“.

In kursiven Passagen reflektiert der Autor seine eigenen Zugänge, lässt zugleich offen, ob seine Recherchen so oder sich womöglich anders abgespielt haben, lässt einen Zwischenraum zu sich und seinen Figuren. Ein Roman, der sich durch erzählerische Leichtigkeit auszeichnet, indem er schrecklichen Ereignissen ein optimistisches Gegengewicht verleiht. Walter Müller gelingt es, eine Geschichte im Umfeld des Zweiten Weltkriegs aus der subjektiven Ebene in eine Allgemeingültigkeit zu transponieren.

Walter Müller
Kleine Schritte
Otto Müller
2010 · 200 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-701311804

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