Chronik des Chronisten
Wird Alfred Döblin heute noch gelesen? „Berlin-Alexanderplatz“ darf in einer Aufzählung der großen deutschen Romane des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht fehlen. Das Buch zählt zur Pflichtlektüre sämtlicher gymnasialer Oberstufen und germanistischer Seminare, wenngleich es vermutlich nicht wenige Schüler und Studenten gibt, die direkt zu einem der zahlreichen Erläuterungsbände greifen (und/oder sich die Verfilmung ansehen). Zu wissen, wer Franz Biberkopf ist, ist in bildungsbürgerlichen Kreisen so selbstverständlich, wie den kleinen Oskar Matzerath mit der „Blechtrommel“ in Verbindung zu bringen. Aber dennoch: Anders etwa als im Fall von Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“, das derzeit in neuer Ausgabe ein Revival in den Feuilletons und Buchhandlungen erlebt (Aufbau Verlag 2011), ist es um „Berlin-Alexanderplatz“ in den vergangenen Jahren still geworden. Weitere Werke des Vielschreibers Döblin – rund 40 Buchpublikationen gehen auf sein Konto – kennt heute kaum noch jemand dem Titel nach, von deren Inhalt ganz zu schweigen. Der Kulturjournalist Wilfried F. Schoeller hat nun die erste (!) umfassende Döblin-Biografie vorgelegt, die in akribischer Detailtreue (auf über 800 Seiten) das Leben und Werk des in Stettin geborenen und in Baden-Württemberg gestorbenen Schriftstellers nachzeichnet, der Berlin eigentlich nie verlassen wollte, und doch gezwungen war, zahlreiche Jahre seines Lebens im Exil zu verbringen.
Immer wieder kommt Schoeller dabei auf den nur drei Jahre älteren Thomas Mann zu sprechen. So sehr sich die beiden voneinander unterschieden – Döblin konnte seine Schriftsteller-Existenz nicht auf einer bequemen Leibrente aufbauen –, weisen doch die Frühwerke einige Gemeinsamkeiten auf: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte dazu die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer (vermeintlichen) Gewissheiten, sowie – im Gegenzug – die Faszination, die von einer asketischen, im Grunde lebensverneinenden Existenz ausgeht. Manche Stücke aus dieser Zeit, etwa Döblins 1902/03 verfasste „Memoiren des Blasierten“ und die Thomas-Mann-Novelle „Tobias Mindernickel“ (1898), verlaufen praktisch nebeneinander her.
Anders jedoch als dem stets kritisch beäugten Rivalen aus Lübeck, dessen Arbeit, so zumindest erscheint es im Rückblick, bereits früh als Gesamtwerk konzipiert war, blieb Döblin der frühe Ruhm verwehrt. Dabei fehlte es ihm nicht an literarischem Ehrgeiz: Neben Erzählungen und Theaterstücken verfasste er bis in die 1920er Jahre hinein unzählige Feuilletons, politische Kommentare und Buchbesprechungen; vier Bände bzw. rund 1.500 Druckseiten umfassen die sogenannten „Kleinen Schriften“ Döblins. Darüber hinaus veröffentlichte der Arzt Döblin zahlreiche medizinische Fachbeiträge, und liebäugelte zumindest vorübergehend mit einer wissenschaftlichen Karriere. Aber es war nicht vor 1913 – Döblin war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt –, dass ein Verlag einen Band mit seinen Erzählungen herausbrachte.
Für einige Aufmerksamkeit, wenngleich bei geringer Auflage, sorgte drei Jahre später Döblins erster Roman, „Die drei Sprünge des Wang-Lun“, der in den Medien wohlwollend aufgenommen wurde, und dem Autor zu einer gewissen Bekanntheit verhalf, die über die literarischen Zirkel Berlins hinausreichte. Das war nicht unwichtig, half es Döblin doch dabei, seine Werke fortan gedruckt zu bekommen (was bis dahin nicht selbstverständlich war) und sich als Schriftsteller zu etablieren; bis 1933 erschienen seine Bücher im renommierte S. Fischer Verlag. Als im Herbst 1929 „Berlin-Alexanderplatz“ auf den Markt kam, für Schoeller „die Grabplatte der Aufmerksamkeit für die anderen Bücher Alfred Döblins“, war das Interesse der Medien zunächst groß. Jedoch wurde die Veröffentlichung rasch von einem anderen literarischen Großereignis in den Schatten gestellt: die Vergabe des Nobelpreises an Thomas Mann. Unzutreffend ist zudem das Gerücht, Döblin habe mit seinem Berlin-Roman ein Vermögen verdient: In den vier Jahren, die Döblin noch in Deutschland blieb, wurden nicht mehr als 45.000 Exemplare verkauft. Das war, gemessen an seinen bisherigen Verkaufserfolgen, beachtlich, verglichen jedoch mit manchen seiner Kollegen blieb die Leserschaft Döblins auch nach dem Erscheinen von „Berlin-Alexanderplatz“ überschaubar.
Wie so viele Kulturschaffende kehrte auch Döblin, der aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammte, im Frühjahr 1933 Deutschland den Rücken und ging ins Exil; zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich und schließlich in die USA, wo er sich – wie so viele seiner Kollegen – in Hollywood als Drehbuchschreiber versuchte. Obwohl ein strikter Gegner des Nationalsozialismus, hielt sich Döblin in der Frühphase des Exils mit Meinungsäußerungen über die Vorgänge in Deutschland zurück. Grund dafür war nicht, wie bei Thomas Mann, die Hoffnung, seine Bücher könnten auch weiterhin in Deutschland erscheinen, sondern vielmehr der Umstand, dass Teile seiner Familie, unter anderem drei seiner Söhne, noch in Deutschland lebten. Wie Mann distanzierte sich Döblin daher, wenngleich in seinem Fall aus familiären Gründen, von einem in der von Klaus Mann herausgegeben scharf antinazistischen Exilzeitschrift „Die Sammlung“ veröffentlichten Beitrag. Nachdem schließlich auch den Söhnen die Flucht aus Deutschland gelungen war, legte er sich bei seiner Kritik an den deutschen Zuständen keine Zurückhaltung mehr auf; in unzähligen Artikeln und Vorträgen ging Döblin, der das große Glück hatte, 1936 die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, hart mit seinem Herkunftsland ins Gericht.
Literarisch wandte sich Döblin im Exil dem mythischen Roman zu; seine „Amazonas“-Trilogie, die 1937 fertiggestellt wurde, behandelt in bizarrer Weise die Zerstörungen, die die Europäer, getrieben vom Wahn, das Christentum zu verbreiten, an den Völkern Südamerikas verübten. Bezeichnend ist, Schoeller weist ausdrücklich darauf hin, dass sich Döblin damit wieder unmittelbar in die Nähe seines Dauerrivalen Thomas Mann begab. Dieser schrieb bereits seit Mitte der 1920er Jahre an seiner monumentalen Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“, die zwischen 1933 und 1943 – die ersten beiden Bände noch bei S. Fischer in Berlin – veröffentlicht wurde. Die gedankliche Nähe der beiden Werke, der Rekurs auf den Mythos und das Geheimnisvolle fremder Kulturen angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklungen, blieb, sehr zum Leidwesen Döblins, auch den Kritikern nicht verborgen; den Vergleich des „Amazonas“ mit dem „Joseph“ empfand er als derart kränkend, dass es beinahe zum Bruch mit Thomas Mann gekommen wäre. Kurze Zeit später, im Frühjahr 1939, kreuzten sich die Wege der beiden erneut: Döblin war als ordentliches Mitglied in die „Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften“ berufen worden, deren Präsident zu dieser Zeit Thomas Mann hieß.
Unmittelbar nach Kriegsende kehrte Döblin nach Deutschland zurück. Am 9. November 1945 erreichte er Baden-Baden, wohin er von den französischen Besatzungsbehörden mit dem Auftrag der „Rééducation“ der Deutschen entsandt worden war. Vor Ort jedoch wusste man nicht viel mit ihm anzufangen. Auch sein Versuch, mit den in Deutschland gebliebenen bzw. bereits zurückgekehrten Intellektuellen in Verbindung zu treten und eine Art „Aufklärungsgruppe“ ins Leben zu rufen, „um mit ihr gegen die herrschende Indifferenz und gegen die gefährlichen Rückstände zu kämpfen“, verlief nach anfänglichen Sondierungen im Sande. Das lag nicht nur an den äußeren Umständen (Zensur etc.), sondern auch am Unwillen der Beteiligten, unter ihnen Reinhold Schneider, Helene Henze und Oskar Wöhrle, die, so Döblins bitteres Urteil, „nicht zu einer Gruppe zusammentreten [wollten], welche mit Franzosen kollaborierte.“ Helen Henze begründete ihre Vorbehalte später damit, dass Döblin wie ein Oberlehrer aufgetreten sei, der den übrigen Autoren sein „Bild von der gesamten Lage am Kriegsende“ vermitteln wollte; dafür jedoch seien die Erfahrungen der Beteiligten bei Kriegsende zu unterschiedlich gewesen.
Enttäuscht von seiner Wirkungslosigkeit, entschied sich Döblin gegen Ende seines Lebens erneut für das Exil. Gesundheitlich bereits angeschlagen, zog er 1953 nach Paris. In Deutschland verstaubten derweil seine Werke in den Buchhandlungen, wenn sie überhaupt dort auslagen. „Mir kam vor, ich hatte in der Bundesrepublik wirklich nichts mehr zu suchen“, begründete er später einmal seinen Schritt.
Die Wiederentdeckung von „Berlin-Alexanderplatz“ als einem der großen deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts, die mit den 1960er Jahren einsetzte, erlebte Döblin – er war 1957 gestorben – nicht mehr. Es hätte ihn sicherlich gefreut, wenngleich man annehmen muss, dass er mit der Sonderstellung, die das Buch fortan in seinem Gesamtwerk einnehmen sollte, gehadert hätte.
Leider finden sich bei Schoeller kaum Details zur Rezeptionsgeschichte Döblins in der Bundesrepublik. Davon abgesehen ist es ihm jedoch vortrefflich gelungen, die Materialmassen, die Döblin selbst hinterlassen hat – „Hacke ich nicht täglich meine fünfzehn, zwanzig Schreibseiten herunter, ist mir nicht wohl“ –, und die zu Lebzeiten und danach über ihn verfasst wurden, in eine flüssige, gut lesbaren Gesamtdarstellung über Leben und Werk des Schriftstellers und Nervenarztes zu gießen. Ob das für eine Renaissance der literarischen Werke Döblins beim Lesepublikum reichen wird, ist allerdings fraglich.
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