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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Et in Arcadia ego

Ein lehrreicher Exkurs an den Gardasee von Willi Jasper

Es gibt literarische Orte, über die wurde in der Vergangenheit bereits jede Menge geschrieben. Etwa die südfranzösische Ortschaft Sanary-sur-Mer, die in den 1930er Jahren zu einer Art inoffizieller Hauptstadt der deutschen Exilliteratur wurde und zu deren zeitweiligen Bewohnern unter anderem Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Bert Brecht zählten.

Dann wiederum gibt es Orte, die in der Literaturgeschichte bislang kaum eine Rolle gespielt haben, wenngleich sie zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in den vergangenen Jahrhunderten Zuflucht und Inspiration zugleich waren. Riva ist einer dieser Plätze; der Potsdamer Literaturhistoriker Willi Jasper hat einen Exkurs durch die Kulturgeschichte der kleine Stadt am nördlichen Ufer des Gardasees unternommen.

Dreh- und Angelpunkt ist die von Christoph von Hartungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegründete „Atmosphärische Kuranstalt für Nervenkranke und Diabetiker“, die sich rasch zu einem beliebten Treffpunkt für (echte oder eingebildete) Neurastheniker aus ganz Europa entwickelte, was wenig verwundert, schließlich war die Nervenschwäche im Fin de Siècle was der Burnout für die Leistungsgesellschaft ist – wer etwas auf sich hielt, litt daran. Kein Wunder also, dass auch Thomas Mann den Ort wiederholt mit seinem Besuch beehrte, unter anderem – wie Jasper meint – „zur Regulierung seines inneren Nord-Süd-Konfliktes.“ Im Ruderboot auf dem Gardasee stritt er sich mit seinem Bruder Heinrich nicht nur über Fragen von Literatur und Ästhetik, sondern auch über dessen in Thomas Manns Augen allzu lose Sexualmoral. Überliefert ist uns dies, da die beiden Herren aus Deutschland ihre Energie nicht mit Rudern verschwenden wollten, und sich aus diesem Grund Christl von Hartungen, Sohn des Sanatoriumdirektors und damals gerade selbst Medizinstudent, an Bord geholt hatten, der anschließend in Briefen ausführlich über das Gehörte berichtete. Als Christl von Hartungen etliche Jahre später vom S. Fischer-Verlag ein Exemplar des „Zauberbergs“ inklusive beigefügtem Empfehlungskärtchen des Autors zugeschickt bekam, weist er darauf hin, die wichtigsten Romanfiguren nicht nur als „wirkliche Menschen“ erlebt zu haben, sondern auch unzählige der vermeintlich fiktiven Dialoge zwischen dem Literaten und Freimaurer Lodovico Settembrini und dem Jesuiten Leo Naphta einst im Ruderboot auf dem Gardasee persönlich belauscht zu haben. Und auch im Werk von Heinrich Mann finden sich immer wieder Anspielungen auf seine Aufenthalte in Riva, etwa in „Die Jagd nach Liebe“, als das Liebespaar Claude und Gilda an einem nahe der Ortschaft gelegenen Wasserfall „den traurigsten Blick ihres Lebens“ austauschen. 

Aber nicht nur die Brüder Mann, auch Franz Kafka und Max Brod traten die Reise ins Hartung’sche Sanatorium in Riva wiederholt an. Im Sommer 1909 nutzte Kafka die Gelegenheit, eine der ersten Flugschauen überhaupt im benachbarten Brescia zu besuchen, worüber er für die deutschsprachige Prager Zeitung „Bohemia“ einen Artikel mit dem Titel „Die Aeroplane in Brescia“ verfasste. „Klein und einsam“ erscheine der Mensch im Zusammenspiel mit den Maschinen, so Kafka. Im Juli 1913 plante Kafka eine neuerliche Reise nach Riva, diesmal zusammen mit seiner Freundin Felice Bauer, der er gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte. Doch kamen weder die Ehe noch die gemeinsame Reise zustande: Kurz vor der geplanten Abfahrt erklärte er der Geliebten, er verspüre den „Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit“, die er nur finden könne, wenn er sich alleine nach Riva ins Sanatorium begebe. Ganz so groß war Kafkas Wunsch nach Einsamkeit aber dann wohl doch nicht, zumal er bereits wenige Tage nach seiner Ankunft in Riva ein Verhältnis mit einer 18-jährigen Schweizerin anfing. Wenngleich Felice Bauer davon kaum begeistert gewesen sein dürfte, erklärte sie sich im Juni 1914 dennoch zu einer Verlobung mit Kafka bereit; als jedoch dieser kurze Zeit später auch noch in intimen Kontakt mit einer ihrer besten Freundinnen trat, wurde die Verlobung für beendet erklärt. Der Entlobte genoss daraufhin die wiedergewonnene „Freiheit“, gönnte sich ein paar Tage Urlaub an der Ostsee und kehrte mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Prag zurück.

Für den Charakter von Jaspers Buch ist die geschilderte Kafka-Episode bezeichend. Denn „Zauberberg Riva“ ist keine auf Vollständigkeit angelegte Literaturgeschichte, sondern vielmehr eine Sammlung kurzer Essays und Anekdoten, in denen Riva das verbindende Element darstellt. Das Ergebnis ist ein ebenso kurzweiliger wie lehrreicher Exkurs in die Literaturgeschichte jenes alten Europas, in dem der Gardasee noch nicht der Deutschen liebste Badewanne war, sondern exklusives Reiseziel einer kleinen literarischen Avantgarde.  

Willi Jasper
Zauberberg Riva
Matthes & Seitz
2011 · 271 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-882216233

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