Der Krieg, die Liebe und der Waggon
Fast den gesamten gestrigen Tag, es war ein sehr schöner und auch warmer Frühherbsttag, habe ich mit der Lektüre des Buches „Die Manon Lescaut von Turdej“ zugebracht. Ein wundervoll gestaltetes Buch, auf dessen Klappen Gesichter sich aus Schwarzweißfotografien schälen, als wollten sie aus einer Vergangenheit heraus herüber grüßen.
Wäre ich ein Kunstgeschichtler und zudem noch spezialisiert auf die Geschichte der Russischen Kunst, wäre mir der Name des Autors Wsewolod Petrow vielleicht schon einmal untergekommen, denn er war im Leningrader Russischen Museum angestellt und verfasste einige Beiträge über russische Kunst, die wohl auch ins Deutsche übertragen wurden. Er lebte von 1912 bis 1978. Da ich aber kein Kunstgeschichtler bin und in einem ganz anderen Sinne auf Russland, bzw. die Sowjetunion geeicht war, habe ich von ihm noch niemals etwas gehört.
Der Weidle Verlag legt nun die einzige literarische Arbeit Petrows vor, die lange nach seinem Tod in Russland in der Zeitschrift Nowij Mir erschien und von Daniel Jurjew nun ins Deutsche übertragen wurde.
Die Übersetzung scheint mir ausgezeichnet gelungen, und ich vermochte einige russische Eigenheiten im Text zu finden, die sich ins deutsche gerettet haben.
Die Novelle erschien 2006 auf Russisch, sechzig Jahre nach ihrer Entstehung. Zu den Entstehungsbedingungen des Textes und den Gründen seiner späten Veröffentlichung erfahren wir einiges im Nachwort, das der Schriftsteller Oleg Jurjew beigesteuert hat.
„Die Manon Lescaut von Turdej ist einer der glänzendsten, wichtigsten und reichhaltigsten Texte der russischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts, man könnte auch sagen, sie ist in gewissem Sinne ein, wenn nicht der Schlüssel zu einigen Geheimnissen der russischen Kulturgeschichte – ein Schlüssel, der genau sechzig Jahre lang in Wsewolod Petrows Schublade lag.“
Jurjew schreibt das über einen Text, dessen Umfang gerade mal knapp hundert Seiten beträgt, und den man im Grunde ohne literaturgeschichtliche Vorbildung und ohne kunstwissenschaftlich gefüllten Tornister lesen und genießen kann. Aber Jurjew, scheint mir, hat recht, und dieser Text ist ein kleines Wunder. Die diesjährige Bachmannpreisträgerin Olga Martynova steuert zum endgültigen Gelingen noch einen Stellenkommentar bei.
Aus dem Nachwort ist auch zu schließen, warum ich in meiner Jugend, die ich in der DDR verbrachte, keinen Zugang zu derartiger Literatur haben konnte, denn damals galt, dass alles, was aus der Sowjetunion kam, vom blauen Moskwitsch, den mein Vater fuhr, bis zum Wodka, den mein Staatsbürgerkundelehrer in rauen Mengen trank, nicht einfach nur gut war, sondern vor allem heroisch. Und wie in Scholochows Novelle „Ein Menschenschicksal“ teilten wir in den Schul- oder besser Kampfpausen hinter der Turnhalle eine Zigarette und sagten dazu: dass alleine rauchen wie alleine sterben sei, bevor wir uns weiter mit der Niederwerfung des Imperialismus und all seinen Auswirkungen befassten.
Zum Glück haben wir nicht gewonnen, denn dann wäre mir mein gestriges Leseerlebnis entgangen, und es gäbe ein Buch weniger, das ich dem Leser guten Gewissens und mit einem gewissen Nachdruck ans Herz lege.
Ein Lazarettzug bewegt sich, beziehungsweise bewegt sich über weite Strecken auch nicht, durch eine unwirkliche Landschaft, steht auf Betriebsbahnhöfen herum oder in der Nähe irgendwelcher Dörfer, in dem seine Besatzung von Zeit zu Zeit Quartier bezieht. Im Zentrum der literarischen Bühne befindet sich gewissermaßen ein immer bollernder Kanonenofen, der eine kleine Spielfläche erhitzt. Draußen herrscht Winter, und Wärme scheint wichtiger als Licht.
(In einem solchen Dorf kommt es übrigens im zweiten Teil des Buches zu einer kleinen, sagen wir, Nebengeschichte, die mich sehr beeindruckt hat. Ein Kind singt mit klarer Stimme und fest in der Melodie, allein der Text geht ihm ab. Und der Junge wird daraufhin von Vera, der weiblichen Hauptfigur des Textes in den richtigen Gebrauch der Worte eingewiesen.)
Im Zentrum der Novelle aber steht die Liebesbeziehung, die sich zwischen dem Ich-Erzähler, einem Menschen, der in der Waggonhierarchie eine gehobene Position innehat, wahrscheinlich ist er Offizier, und Vera entspinnt, und gewissermaßen ein Konflikt zwischen den Konventionen, in denen der Erzähler gefangen ist, in die er sich auch selbst verstrickt, und der, sagen wir, eigentümlichen Freiheit von Vera.
Jedoch wird Vera, sie ist zwanzig, also eigentlich noch ein Mädchen, in der Geschichte nicht überhöht. Nur der Icherzähler selbst findet in ihr etwas Madonnenhaftes. Und hierin erweist sich auch die erzählerische Meisterschaft Petrows: er zeigt einen immerwährenden Prozess der Verklärung und Entzauberung, einen Prozess, der mehr oder weniger auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Als gewissermaßen einzige Freie in der Mikrowelt des Waggons, gerät Vera in Konflikt mit den anderen Mitreisenden, Pflegern und Ärzten. Helden erblickt man in dieser Szenerie nie.
Der karge Hintergrund des Krieges macht den Waggon zur Bühne, die durch ganz Russland reist. Außerdem ist der Icherzähler andauernd mit Goethes Werther unterwegs und liest ihn auch noch auf Deutsch. Der Krieg jedoch bringt sich als drohendes Außen in Form von Luftangriffen immer wieder in Erinnerung und beendet das Schauspiel auch auf entsprechende Weise. Vera, die Freie, wird ausgelöscht.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben