Das schmerzhafte Fließen der Zeit
Yasmina Reza ist eine berühmte Frau. Ihre Theaterstücke „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ werden in der ganzen Welt gespielt, letzteres Stück verfilmte Roman Polanski 2011. Verwundert hat manchen vielleicht, dass Reza 2007 Frankreichs Ministerpräsidenten Nikolas Sarkozy auf seiner Wahlkampftour begleitete, um darüber ein Buch zu schreiben, das nach Sarkozys erfolgreicher Wahl erschien und unter „Frühmorgens, abends oder nachts“ auch ins Deutsche übersetzt wurde. Aufgrund des Buches soll Reza als Preisträgerin für den renommierten Prix Goncourt gehandelt worden sein. Sarkozy hat das Buch nie gelesen, behauptet er, weil er nämlich nie etwas über sich lese.
Warum hat sich die erfolgreiche Dramatikerin um diese Aufgabe gerissen? Sie hat sogar Sarkozy selbst gefragt, ob sie ihn ein Jahr lang begleiten kann. Wollte sie ihren Marktwert testen? War es die faszinierende Nähe zur Macht? Sie duzte sich irgendwann mit dem Präsidenten, und sie durfte bei ihm bleiben, wenn alle abgehängt waren, das Wachpersonal, auch die Familie und sie durfte seine kindlichen Momente erleben, wenn er über eine Rolex staunte oder Schokolade aß. Sie selbst sagte, sie wolle sehen, was Politik aus dem Menschen macht.
Um dieses Buch geht es gar nicht. Dennoch könnte man ja den Versuch unternehmen und in einem sehr biografischen Buch wie „Nirgendwo“ sich der Person Reza zu nähern und nach einer Antwort suchen.
In dem schmalen Bändchen „Nirgendwo“, das in der Edition Akzente von Hanser erschien, sind Prosaminiaturen versammelt und wenn man sie alle zusammenfügt, erscheint vor unserem Leseauge eine erfolgreiche Frau, ihr Vater ist stolz auf sie. Sie kleidet sich für eine Preisverleihung ein, sie sitzt im Publikum eines Konzertes, das Barenboim dirigiert, sie pflegt freundschaftlichen Umgang mit ihrer Literaturagentin Marta. Überrascht wird der Leser von der Menge der Fragezeichen in diesen kleinen Texten.
Yasmina Reza, eine Frau die gewohnt ist, sich im gesellschaftlichen Leben Frankreichs und der Metropolen der Welt sicher und attraktiv zu bewegen, stellt eine Menge Fragen. Gleich keimt wieder Misstrauen auf, kokettiert sie vielleicht, wenn sie programmatisch für diesen Band fragt: Woher kommt diese Utopie des Schreibens ohne Gegenstand, ohne Adressat? Ausgang für diese Frage ist ein Satz von Roland Barthes.
Die Autorin hat einen Vater multikultureller Herkunft, der Jude aus dem Iran ist mit seinen Eltern über Russland nach Paris gekommen, wo er bis zu seinem Tod lebt. Er wird, wie seine Eltern, auf dem jüdischen Teil des Friedhofes Montparnasse beigesetzt. Reza empfindet es als „Wunder“, auf diesem von den Parisern so begehrten Friedhof ihre Ahnen neben wichtigen französischen Kulturschaffenden zu wissen. Als wären ihre wurzellosen Großeltern und ihr Vater „Neureiche des Todes“.
Die Mutter besucht ohne Sentimentalität die ungarische Heimat. Da ist es Reza, die im Gegensatz zu ihrer Mutter ein Wokommichher-Urblubbern verspürt. In einigen der Miniaturen spürt sie der eigenen Kindheit nach. Wie sie im Alter von sechs oder sieben Jahren, der Mehrheit ihrer katholischen Mitschülerinnen nachstrebt, und das Kreuzzeichen übt. Und sich dabei erhaben fühlt. Bis die Mutter sie dabei ertappt: „Was tust du denn da, mein armes Kind“, so der Titel des Textes. Reza fühlt sich ungerecht behandelt, wird aber weiter im Dunklen gelassen, es wird ihr, der Nachkommin einer jüdischen Familie, die ihren Glauben nicht praktiziert, lediglich beschieden: „Juden schlagen kein Kreuz“. Erst nach dem Sechstagekrieg beginnt in der Familie eine Art Euphorie, sich den Juden zugehörig zu fühlen. Auf diesen eineinhalb Seiten, eingefügt in den Kontext der anderen Miniaturen, erzählt Reza anekdotisch beginnend von der Zugehörigkeit, von der „ambivalenten Magie der Identität“, und endet mit einem Sprengstoff der Jetztzeit.
Als erwachsene Frau begleitet der Vater sie in ihren Texten, sie sieht in Episoden mit dem Alternden ihr eigenes Alter. In Hammerklavier-Sonate sagt sie: „Für ihn bin ich noch jung, allezeit.“ Vater und Tochter spielen Klavier und sind dabei „Konkurrenten“. Eines Tages bittet die Tochter ihn, die Hammerklavier-Sonate von Beethoven zu spielen. Und er übt und übt. Dann spielt er der Tochter vor, „schüchtern wie ein Kind“. Und verpatzt, er selbst ist traurig, die Tochter aber - lacht. Innerlich, aber lacht. Offen bleibt, ob sie darüber lacht, dass die Autorität des Vaters vorbei ist oder ob es ein weises Lachen ist über den Lebenskreis, der sich unweigerlich schließt. Es ist ein jüdisches Lachen, das immer auch eine Distanz zu sich selbst möglich macht.
Auch wenn die Französin über ihre Kinder erzählt, liegt darunter ein Schimmer Melancholie, dass das Leben so schnell weitergeht. Da möchte der Sohn nicht mehr, dass die Mutter ihm nachwinkt, wenn er allein den Schulweg antritt. Die Tochter ist gar nicht so traurig wie die Mutter, als das Frühwerk der Siebenjährigen: „Die Nörglerin“, handgeschrieben in ein Schulheft, unauffindbar bleibt. Reza fragt sich, warum der Verlust sie so sehr schmerzt. „Das Buch ist Vergangenheit und Zukunft“, gibt sie sich selbst die Antwort und sie weint vor Glück, als „Die Nörglerin“ dann doch gefunden wird.
Es sind nur Momente, die Reza festhält, befragt und ihnen eine Bedeutung gibt, einen anderen Blick auf das Leben. Lucette war eine Freundin der Schulzeit. Lucette war das perfekte Opfer, das die spätere Autorin mit kleinen Gemeinheiten demütigte. Nach Jahrzehnten sieht sie Lucette, „mein hässliches Entlein“, als Sängerin auf der Bühne Händels „Messias“ in einer Bearbeitung von Mozart singen. Lucette ist hübsch. Der Dirigent ist Daniel Barenboim. Und Reza kann es nicht fassen, dass die Frau da auf der Bühne ihre „Sklavenfreundin“ ist. Sie begreift: Man kann seinem Schicksal entgehen, wie Lucette.
Wenn man diese Miniaturen liest und sich daraus nach und nach die Person Yasmina Reza erschließt, die über die Wurzellosigkeit der Eltern nachdenkt - das „Nirgendwo“ der Herkunft Rezas gab dem Bändchen den Titel - die das Fließen der Zeit schmerzhaft in kleinen Momenten spürt, und die auch mal eitel und auch mal zickig ist, wenn einem Begleiter ihre Halskette nicht gefällt.
Was man nicht sehen kann, ist die Person, die den Ministerpräsidenten Frankreichs anruft, ob sie ihn bei der Wahlkampftour begleiten kann. Das ist vielleicht so wie die Erkenntnis bei Lucette, auch Yasmina Reza will sich nicht festlegen lassen.
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