Alles fließt
Alle wollen immer nur das Beste. Für andere, für die Kinder und vor allem – oft uneingestanden – für sich selbst. Aufstieg, Ansehen, Erfolg, Wohlstand, Liebe, meist in dieser Reihenfolge.
Und immer geht es schief.
Zadie Smith erzählt in ihrem vierten Roman »London NW« davon, daß es immer schiefgeht. Der Ausgangspunkt heißt Caldwell, eine unwirtliche Hochhaussiedlung im Londoner Nordwesten, eine Gegend, die Menschen, so sie es nicht ohnehin schon sind, depraviert, und wer dort aufwächst, will raus. Wer rauskommt, hat es geschafft – meinen die, die nicht rauskommen.
Natalie und Leah haben es also vermeintlich geschafft, haben die Schule beendet und studiert, haben einen Job, haben einen Mann. Gekommen sind sie bis Kilburn, das ist immer noch Londoner Nordwesten, aber eben nicht mehr Caldwell.
Natalie hat Kinder. Leah nicht – ihr Mann möchte welche, sie sagt, sie auch, aber heimlich nimmt sie die Pille weiter. Leah ist die Karriereleiter nicht allzuweit hochgestiegen, sie ist Sozialarbeiterin. Natalie hat es bis ins Anwaltswesen gebracht. Glücklich sind sie beide nicht. Aber immerhin Freundinnen, von Kindesbeinen an, und auch über (soziale) Grenzen hinweg, denn Leah ist weiß, Natalie schwarz. Beide tragen ein Geheimnis mit sich herum, das nicht mal die andere kennt, bei Leah ist es eine lesbische Neigung, bei Natalie der Drang, auf Sexualkontaktanzeigen von Paaren zu antworten. Und auch hinzugehen.
Zadie Smith, 1975 geboren, wurde mit ihrem ersten Roman »Zähne zeigen« berühmt, ihm folgten »Der Autogrammhändler« und »Von der Schönheit«. Das neue Buch ist umfassender, tiefgehender als die früheren – und das, obwohl im Grunde nicht allzuviel passiert auf den gut 400 Seiten. Smith erzählt vom Alltagsleben im Londoner Kiez, Busfahrten und Junkies und Job und Garten und Türschlösser. Sie erzählt vom Aufstieg, von dem angeblichen Glück der neuen Wohnung, die aber in der Seele, wenn sonst wenig da ist, auch nur die schon bekannte Leere hinterläßt. Es geht um Status, Klamotten, Handys, Nachwuchs und – nicht zentral, aber immer wieder – um Rasseunterschiede. Im Kern aber handelt der Text von Selbstvergewisserung. Von innerer Sicherheit respektive ihrem Fehlen, da man innere Sicherheit gemeinhin durch äußere Dinge nicht erreichen kann. Und auch die eine oder die andere Hautfarbe sie nicht automatisch mit sich bringt. Was fehlt, ist ein Ansatzpunkt, woher das Unglück kommt. Oder kommen könnte. Da läßt die Autorin den Leser bloß spekulieren.
Locker zwischen den beiden Erzählsträngen von Leahs und von Natalies Leben und ihren wechselseitigen Überschneidungen eingebettet ist die kurze Geschichte von Felix. Er hat mit den beiden Frauen nichts zu tun, außer daß er aus derselben Gegend kommt und den Aufstieg eigentlich nicht geschafft hat. Geschafft hat er, von den Drogen loszukommen, er hat ein gutes Geschäft abgeschlossen, er hat eine Freundin, er ist glücklich – und wird dann auf offener Straße von zwei Räubern umgebracht.
Zadie erzählt das alles mit sehr leichter Hand, fast spielerisch, ironisch und locker und kunstvoll. Nicht mal das, was an der Geschichte tonnenschwer ist, kommt so daher. Alles fließt, was passiert und was nicht passiert und was gesagt und gedacht wird, wild durcheinander – wie es im Kopf eben so zugeht.
Das ist meisterlich umgesetzt. Dazu tragen auch schöne schreiberische Einfälle bei wie der Abriß von Natalies Leben vom Kennenlernen Leahs bis zum Auffliegen ihres Geheimnisses in 185 Minikapiteln (zur Not steht da auch mal nur ein einziger Satz). Es gibt aber auch graphologische Blödsinnigkeiten wie der aus den Wörtern »Zahn« und »Goldzahn« und so weiter nachgebildete Mund mit dem Wort »Zunge« in der Mitte. Doch dergleichen nimmt nicht überhand, weswegen man sich gleich fragt, warum das Lektorat es nicht vollständig eliminiert hat.
Vielleicht, weil die Autorin Zadie Smith heißt und sich viel erlauben kann. Denn wer so gut erzählen kann, dem sieht man manches nach.
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