Lesart
Antonia Pozzi* 1912† 1938

Zeit

Während du schläfst,
ziehen  Jahreszeiten
übers Gebirge.

Der Schnee in der Höhe
lässt schmelzend
den Wind frei:
hinter dem Haus spricht die Wiese,
das Licht
trinkt die Regenspur auf den Wegen.

Während du schläfst,
ziehen Sonnenjahre
durch die Wipfel der Lärchen
und die Wolken.

II

Ich kann Maiglückchen pflücken,
während du schläfst,
denn ich weiß,
wo sie wachsen.
Und mein wahres Zuhause
mit seinen Türen und Steinen
bleibe fern,
dass ich es nicht wieder fände
und durch die Wälder irrte
in alle Ewigkeit,
während du schläfst
und die Maiglöckchen wachsen
ohne Unterlass.

28.Mai 1935

Die allereigenste Enge

Eine Berglandschaft. Zwei Menschen in der Natur. Frühsommer. Fülle.
Die Szenerie lässt ein klassisches Liebesgedicht vermuten, doch die beiden Menschen, um die es hier geht, scheinen aneinander vorbei zu laufen. Das lyrische Ich ist allein, offenbar von Unruhe erfüllt, derjenige, auf den es wartet, schläft. Er ist zwar physisch gegenwärtig, aber nicht greifbar. Allein in der Natur erscheint diese der Frau in einer ambivalenten Dimension; von ihrer verführerischen Fülle geht eine nur schwer zu fassende Bedrohlichkeit aus: und die Maiglöckchen / wachsen ohne Unterlass. Die überbordende Natur verlockt den Menschen und lehrt ihn zugleich das Fürchten. In einer irrealen, Zeit und Raum enthobenen Atmosphäre, bleibt das Ich allein zurück. Die Spaltung ist, wenngleich die Natur regelrecht beschworen wird, definitiv. Vergeblichkeit auf der einen, das sichere Wissen um jenes nicht abgegoltene Glücksversprechen, das laut Adorno aller Lyrik zueigen ist, auf der anderen Seite, sind die extremen Pole, zwischen den sich die poetische Welt Antonia Pozzis (1912-1938) entfaltet.

22 Jahre alt ist sie als sie dieses rätselhaften Verse zu Papier bringt, vermutlich in Pasturo, einem kleinen Dorf in den Alpen hoch über dem Comer See, in das sie sich gerne allein zurück zieht und in dem die meisten ihrer Gedichte entstehen. Schon früh zieht das junge Mädchen die Abgeschiedenheit dem mondänen gesellschaftlichen Leben in ihrem großbürgerlichen Mailänder Elternhaus vor. Allein in der Natur findet sie zu sich selbst und in die Worte, die, so hat es häufig den Anschein durchaus ungesucht zu ihr kommen, ja vielleicht sogar unverstanden. Zwar verfügt Antonia über eine solide literarische Bildung – sie wird ihr Studium mit einer Untersuchung zu Flaubert abschließen – doch hat sie keinen direkten Anschluss an die literarischen Kreise ihre Zeit, ja auch in ihrem nächsten Umfeld weiß eigentlich niemand, dass sie schreibt. In der selbst gewählten Abgeschiedenheit entwickelt sie ihre eigene literarische Formensprache, Metaphern des Glücks und der äußersten Bedrängnis.

Es ist Antonias ambitioniertem Vater Roberto Pozzi, einem renommierten Rechtsanwalt zu verdanken, dass ihre Gedichte überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, nachdem Antonia im Dezember 1938, 26jährig, ihrem Leben mit Schlaftabletten ein Ende gesetzt hatte. Nach ihrem Tode setzte der Vater alles daran, seiner Tochter, die sich ihm Zeit ihres Lebens entzogen hatte, endlich Herr zu werden. Höchstpersönlich trat er als ihr Lektor auf den Plan und bearbeitete ihre Gedichte nach seinen eigenen literarischen Vorstellungen derart, dass er endlich mit ihr zufrieden sein konnte. In dieser verstümmelten Version erschienen sie bereits in den frühen vierziger Jahren im  Mailänder Mondadori Verlag.

Erst seit dem Erscheinen einer historisch-kritischen Gesamtausgabe Ende der neunziger Jahre ist das Interesse an Antonia Pozzi, sowohl in Italien als auch im anglo-amerikanischen Sprachraum neu erwacht. Nicht zuletzt die Frage nach einer spezifisch weiblichen Ästhetik hat neue Zugänge zu ihren Gedichten aufgezeigt, die jenseits aller Zeitströmungen den ewigen Kampf zwischen Ich und Welt auf beunruhigende Weise gegenwärtig machen.

 

Antonia Pozzi : Worte. Herausgegeben und übersetzt von Stefanie Golisch, Tartin Editionen, Salzburg, 2005.  

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