Lesart
Dorianne Laux* 1952

Antiklage

Antilamentation

Regret nothing. Not the cruel novels you read
to the end just to find out who killed the cook.
Not the insipid movies that made you cry in the dark,
in spite of your intelligence, your sophistication.
Not the lover you left quivering in a hotel parking lot,
the one you beat to the punchline, the door, or the one
who left you in your red dress and shoes, the ones
that crimped your toes, don't regret those.
Not the nights you called god names and cursed
your mother, sunk like a dog in the livingroom couch,
chewing your nails and crushed by loneliness.
You were meant to inhale those smoky nights
over a bottle of flat beer, to sweep stuck onion rings
across the dirty restaurant floor, to wear the frayed
coat with its loose buttons, its pockets full of struck matches.
You've walked those streets a thousand times and still
you end up here. Regret none of it, not one
of the wasted days you wanted to know nothing,
when the lights from the carnival rides
were the only stars you believed in, loving them
for their uselessness, not wanting to be saved.
You've traveled this far on the back of every mistake,
ridden in dark-eyed and morose but calm as a house
after the TV set has been pitched out the upstairs
window. Harmless as a broken ax. Emptied
of expectation. Relax. Don't bother remembering
any of it. Let's stop here, under the lit sign
on the corner, and watch all the people walk by.

Antiklage

Bereue nichts. Nicht die grausamen Geschichten, die du nur zu Ende gelesen hast, um herauszufinden, wer nun eigentlich den Koch getötet hat. Nicht die geistlosen Filme, die dich im Dunkeln zum Heulen brachten, trotz deiner Intelligenz, deiner Feinsinnigkeit. Nicht den Liebhaber, den du zitternd auf dem Parkplatz eines Hotel verlassen hast, der, dem du in der Tür zuvorgekommen warst, und auch den anderen nicht, der dich in deinem roten Kleid und jenem Paar roter Schuhe hat sitzen lassen, in denen sich deine Zehen immer verbogen, bereue auch sie nicht. Nicht die Nächte, in denen du Gott schmähtest und deine Mutter verfluchtest, versunken auf der Wohnzimmercouch wie ein armes Schwein, Nägel kauend, niedergestreckt vor lauter Einsamkeit. Du warst dazu bestimmt, diese verrauchten Nächte einzuatmen und dazu ein lauwarmes Bier zu trinken, klebrige Zwiebelringe von dreckigen Restaurantfußböden abzuklauben, jenen ausgefransten Mantel mit den losen Knöpfen zu tragen, die Taschen voller abgebrannter Streichhölzer. Unzählige Male bist du über diese Straßen gelaufen und immer noch bist Du hier. Bereue keinen von ihnen, nicht einen einzigen verschwendeten Tag, an dem du alles so satt hattest, wenn die Lichter der Karnevalsumzüge die einzigen Sterne waren, an die du noch glauben konntest und du sie um ihrer Nutzlosigkeit willen liebtest und unter gar keinen Umständen gerettet werden wolltest. So weit bist du gekommen, auf dem Rücken jedes einzelnen Fehlers, dunkeläugig und verbissen, und doch ruhig wie ein Haus aus dessen Dachfenster man endlich den Fernseher geschmissen hat. Harmlos wie eine zerbrochene Axt. Leer von Erwartungen. Entspann dich. Mach dich nicht verrückt damit, dich an all das erinnern zu wollen. Lass uns hier Schluss machen, unter der Leuchtreklame an der Ecke, und lass uns einfach den Leuten zuschauen, die vorübergehen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Golisch

Famous red shoes

Bedarf Dorianne Laux’  Antiklage wirklich einer Auslegung oder gehört es einfach zu jenen glücklichen Gedichten, die nichts anderes sein und sagen wollen als sie eben sind und sagen?  Eher denn zu einem Kommentar ermuntert mich dieses Gedicht zu einer persönlichen Antwort, etwa als säße ich der Autorin bei einer Tasse Kaffee gegenüber und erzählte ihr nun meinerseits  von all den Peinlichkeiten und Missgeschicken, die man gemeinhin schamhaft vor sich selbst und seiner Umwelt verbirgt, und die dennoch das Unterfutter eines jeden Lebens ausmachen.
Ja, auch ich besaß einst ein Paar feuerroter Schuhe, ein Ausverkaufsschnäppchen, günstig im Preis, aber leider eine halbe Nummer zu klein. Auch ich hatte in ihnen ein Rendez-vous zu bestehen und bestand es selbstredend nicht. Zwar ist es mir niemals widerfahren, fettige Zwiebelringe von einem schmutzigen Restaurantfußboden abklauben zu müssen, doch einmal wäre ich fast verzweifelt, als ich als  neuzehnjähriges Aupairmädchen im Herzen von Paris die vollkommen verdreckte Küche von Madame Agnes zu reinigen  hatte, während jene, eine echte Dame von Welt - Gauloises rauchend, Whisky trinkend  - , sich nebenan im Schlafzimmer mit einem ihrer höchst attraktiven jugendlichen Liebhaber vergnügte.

Man überlebt, sagte Dorianne Laux, und in der Tat habe auch ich habe das Fiasko meines Pariser Herbstes überlebt. Mit Schokolade, tafelweise, und dem deprimierendsten aller Cohen Songs aus der umfangreichen Schallplattensammlung der Hausherrin, Famous blue raincoat, den ich wieder und wieder hörte und mich dabei in meinem Unglück immerhin sehr erhaben fühlte. Schlimmer konnte es nicht kommen.
Und kam es natürlich doch.

Erste Treffen, bei denen ich stets viel zu früh am verabredeten Ort erschien und mir regelmäßig die falschen Sätze aus dem Mund purzelten. Schief gelaufene Prüfungen, vermasselte Bewerbungsgespräche,  besorgte Vorladungen bei den Lehrern meiner Tochter sowie eloquente Absagen so genannter "namhafter" Verlage. Sich wie ein Wurm fühlen und dabei doch  wissen, dass man keiner ist, ja nach menschlichem Ermessen  gar keiner sein kann, da man seine eigene Lage doch so gut überreißt  und perfekt zu analysieren im Stande ist: So weit bist du gekommen auf dem Rücken jedes einzelnen Fehlers.
Auf  unnachahmlich pragmatische Art macht Antilamentation Mut, sich selbst  und seine schiefen Lebensgeschicke wie in einem Buster Keaton Film in Augenschein zu nehmen. Ein klein wenig lächerlich, ein klein wenig ernst, eine Spur verbissen und doch im rechten Augenblick den Zugang zur lebensrettenden Ironie nicht verpassend.
Menschlich eben. Und in gewisser Weise solidarisch.
Denn ein Paar feuerroter Schuhe hatte irgendwann wohl jede Frau einmal in ihrem Schrank.   

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