Zwei Kinder
Sie spielten als Kinder vom selben Haus
Verstecken und Greifen im Hofe.
Dann trug der eine Zeitungen aus,
der andre bekam eine Zofe.
Der eine hatte die Hüll und die Füll
des Flitterkrams und des Süßen!
Der andre war immer verträumt und still
und ging ohne Schuh an den Füßen.
Und lag noch der eine im süßen Traum,
schürt jener schon Kohlen zu Flammen.
Sie wurden größer und begrüßten sich kaum –
was sollten die zwei auch zusammen!
Kein Witzblatt!
„Der wahre Jacob“ (1877-1933) war eine „Illustrirte humoristisch-satirische Zeitung mit einem Beiblatt für Unterhaltung und Belehrung“ der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Das hier vorliegende Gedicht „Zwei Kinder“ erschien in der N° 393 im Jahr 1901. Damals kletterte die Auflage des Blattes auf weit über 100.000 Exemplare und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sogar auf 385.000, als man sich mit dem „süddeutschen Postillon“ zusammenschloß. Damit übertraf der Wahre Jacob die heute wesentlich bekannteren bürgerlichen Verwandten wie den Simplicissimus (90.000 in 1908) und das Kladderadatsch (40.000 in 1913). Der Sozialdemokrat Berthold Heymann hatte gerade den Posten des Chefredakteurs übernommen und steuerte die Inhalte des Blatts haarscharf an der allgegenwärtigen Zensur vorbei. Der Wahre Jacob wurde, obgleich stets unter polizeilicher Kontrolle, nie verboten.
Von außen betrachtet hatte er, seitdem die Titelseite mit bunten Karikaturen oder Zeichnungen statt wie früher mit einem Gedicht eröffnete, teils Ähnlichkeiten mit einem Witzblatt (knapp 25 % aller Unterhaltungszeitungen damals waren solche "Witzblätter"), aber im Inneren brodelte es und war Inhalt zu lesen, der nicht nur aus der Feder von etablierten kritischen Dichtern wie bspw. Arno Holz stammte, sondern auch von „gewachsenen“ Arbeiterdichtern wie dem gelernten Schriftsetzer Max Kegel oder dem Tuchmacher Robert Seidel, ja teils von Arbeitern selbst, was manchmal an der mangelnden literarischen Qualität zu entschlüsseln war. Seit den 1870er Jahren hatte der Wahre Jakob viele proletarische Dichter bei sich versammelt: u. a. Jacob Audorf, Heinrich Kämpchen, Adolf Lepp, Andreas Scheu, Josef Schiller-Seff – die zusammen eine sozialdemokratisch orientierte Literatur für Arbeiter schufen, vor allem in Form von Lyrik und Liedtexten, welche rasch in die Arbeiterbewegung hineinsickern und zum proletarischen Kulturgut werden konnten. Das Blatt war über die Jahrzehnte zu einem „Sammelplatz für das literarische Parteileben“ geworden und malte dabei die sozialdemokratische Bewegung nach - weg vom revolutionären Marxismus hin zum Reformismus, der versuchte innerhalb des Systems die Zustände zu ändern.
Die Zeit nach der Jahrhundertwende war für den Wahren Jacob eine Zeit des fortschreitenden Erfolgs. Die Arbeiterschaft organisierte sich mehr und mehr und blieb als Leserschaft treu, hoffte auf immer mehr Gehör und sparte sich den Groschen für das Blatt vom Mund ab.
Die Verhältnisse besserten sich, waren dennoch ungeheuerlich genug. Während ein Arbeiter in der Textilindustrie mit rund 50 Mark im Monat auskommen mußte, verdiente ein Druckereiarbeiter das Doppelte und ein Kumpel im Bergbau noch ein paar Märker mehr, aber weil auch das nicht hinten und nicht vorne reichte, um eine Familie zu ernähren, versorgte man ihn mit Deputatkohlen. Außerdem konnte er sich täglich nach der Arbeit in der Zeche waschen, was sich in den Statistiken der Zeit darin bemerkbar machte, daß bei Frauen von Bergbauarbeitern die wenigsten Unterleibskrankheiten auftraten. Die Männer indes litten an „Bergsucht“ – kaputten Lungen. Und ruinierten rheumatischen Gliedern.
Wenn die schlechtbezahlten Weber an ihrem Webstuhl zu weben begannen, mussten sie „Bleien und Litzen knüpfen“, der Bleiabrieb schlich sich aus den Händen in die mageren Körper, legte sich als Bleisaum um die Zähne, die Haut verfärbte sich blassgelb und grau. Nach wenigen Jahren schleichender Vergiftung verstarb man an Entkräftung, wenn Darmkoliken die letzten Reserven dem Körper entzogen hatten.
Das Intelligenzproletariat indes fand sich als Bohème in den Metropolen zusammen, um dort vom Rande der Armut der Bürgergesellschaft in die Suppe zu spucken. Die scharfe Abgrenzung zum Bourgeois und die nagende Besitzlosigkeit verbrüderte mit dem Arbeiter. Anarchisten erdachten sich eine herrschaftslose Welt der Individualisten. Sie webten große Ideen in ihr persönliches Nein und wollten Dichter sein. Sie mußten rauchen und billigen Cognac trinken und verelenden an der unguten Welt.
„Da sitzen sie - die Bohemiens, und die, die sich dafür halten. Was sie tun? Sie trinken schwarzen Kaffee, oder auch Absinth, rauchen Zigaretten, reden über Ästhetik und Weiber, stellen neue Lehren auf und paradoxe Behauptungen, schimpfen über den Staat und die Banausen, pumpen sich gegenseitig an und bleiben die Zeche schuldig. Aber das sind die Harmlosen.“ schilderte 1903 Insider Erich Mühsam die Lage.
Mühsam veröffentlichte 1901 seine allerersten Gedichte im „Wahren Jacob“. Bis 1906 wurden in der Summe daraus fast 50 politisch-satirische Beiträge. Er schüttelte sie aus dem Handgelenk – immer dann wenn er Geld brauchte und das brauchte er ständig. Neben dem „Wahren Jacob“ belieferte er auch den „Armen Teufel“ in Friedrichshagen, diktierte unter dem Pseudonym Nolo bei Kaffee und Zigarre dem Herausgeber das aktuell-satirische Gedicht direkt in den Setzkasten, und für ein halbes Jahr betreute er den „Briefkasten der Redaktion für fingierte Antworten“ im Unterhaltungsblatt „Fröhliche Kunst“, veröffentlichte dort Skizzen, Schüttelreime und humoristische Gedichte ebenfalls unter Pseudonym.
Das war ein beliebtes Mittel der Redaktionen, einerseits eine breite Autorenschaft vorzutäuschen und andererseits durch Pseudonym geschützt schon bekannteren Dichtern leichtere Muse, die durchaus hätte karriereschädlich sein können, herauszulocken. Auch der Wahre Jacob fuhr diese Strategie. Man kann heute kaum mehr nachvollziehen, wer wann welchen Text veröffentlichte, denn viele sind mit Kürzeln, Pseudonymen oder anonym gezeichnet.
Es war gerade in Mode, Pseudonyme zu benutzen und Geheimnisvolles zu tun.
Am 5. Februar 1892 erschoß sich der Darmstädter Gymnasiast Paul Nodnagel im Alter von 17 Jahren. Als sich sein Bruder um den Nachlass kümmerte, entdeckte er, daß sein Paulchen es war, der zwei Jahre lang unter dem Pseudonym G. Ludwig in der angesehenen, von Michael Georg Conrad in München herausgegebenen naturalistischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“ Gedichte, Essays und Rezensionen veröffentlicht hatte. Diese Form der Travestie war zunächst oft praktisch begründet, aber die Bohème nahm das Spiel auf und erweiterte ihre Grammatik um die Sehnsucht nach Kult und mystischer Verwicklung, eine Selbstinszenierung, die nicht einzuholen ist.
Die im wahren Jacob vertretene Lyrik ist sozialistisch-hymnisch, satirisch-politisch, karikaturistisch. Es gibt Knittelverse und humoristische, dem Volk abgelauschte Aphorismen. Vieles hat eine Lautstärke, die zu Parolen passt. Aber hin und wieder findet sich auch ein Gedicht, das fern aller politischen Ausrichtung, Klage, Euphorie oder Übertreibung prägnant menschliche Situationen aufzeigt, wie „Zwei Kinder“. Wer auch immer sich hinter dem Kürzel –en verbarg, hier ist ihm ein Gedicht gelungen, das auch über 100 Jahre später noch inspirieren kann.
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