Lesart
Erna Fitzner* 1922† 2005

Einsamkeit

Das ist die Einsamkeit in unserm Sein,
In das die Nächte wie Ruinen ragen,
Dass keine Freundesstimmen nach uns fragen
Und nur die Städte da sind, grau von Stein

Dass Menschen sind, die immer dein und mein
In einem einz’gen Atemzuge sagen,
Und die das harte Schicksal nicht ertragen,
Durch tausend Meilen doch getrennt zu sein.

Denn Einsamkeit ist nicht in blauen Himmeln,
Im ausgeharften, dürren Steppenwind
Und nicht im ruhelosen Wolkenziehen.

Sie lodert, wenn auf unsichtbaren Schimmeln
Im Morgendämmern atemlos und blind
Vor Gott die aufgescheuchten Träume fliehen

Entschlossen allein

Wenn ich, erinnernd, ganz in mich versinke,
So rühren an mich dunkle Traumgesichte.
Der Menschheit Genius rührt mich an – ich trinke
Verfloss’ner Zeit unsagbare Gedichte.

 

Für die Lyrikerin Erna Fitzner (1922-2005) konnte kein Zweifel darüber bestehen, was Literatur eigentlich zu leisten habe. Sinnhaftigkeit war in ihren Augen das zeitlose Ideal, welches sie im Laufe ihres langen Lebens niemals aus den gründlich an der deutschen Klassik - zumal ihrem Lieblingsdichter Schiller -  geschulten Augen verlor.

Bereits als junges Mädchen schrieb sie Gedichte und fand sogar rasch einflussreiche Fürsprecher. Man bescheinigte ihr ein überragendes, ja viel versprechendes Talent, das sich mit der Zeit gewiss entfalten würde. Zu Beginn der vierziger Jahre bereits war sie mit einem Berliner Verlag im Gespräch; zu einer Veröffentlichung kam es allerdings ob der sich verschärfenden Kriegsgeschehnisse nicht mehr.

Woran liegt es, dass später alles ganz anders kam, dass Erna Fitzner zwar dreitausend Gedichte, sowie diverse Novellen und Romane schrieb, ja dass sie sich selbst zeitlebens als Schriftstellerin verstand, jedoch als solche auch in ihrem nächsten Umfeld vollkommen unbekannt blieb?

Für die meisten ihrer Nachbarn war die äußerlich unscheinbare Frau eher ein lebendes Fragezeichen, eine sonderbare, kaum einzuordnende Erscheinung, die so gar nicht in das gutbürgerliche Umfeld zu passen schien, das sie sich mit dem Kauf eines Hauses in Berlin Dahlem in den sechziger Jahren als Lebensrahmen bewusst ausgesucht hatte. Erna Fitzner war eine Frau, die es ihrer Umwelt nicht leicht machte, mit ihr in Kontakt zu treten, da ihre eigene Gesellschaft ihr ganz und gar zu genügen schien. Ihre äußere Abgeschiedenheit, ihre Reserviertheit anderen Menschen gegenüber war das Resultat einer sehr bewussten Lebensentscheidung. Als hochkultivierter, vielseitig interessierter Mensch kannte sie nach eigener Aussage keine Langeweile, und so lebte sie, nachdem sie bereits 48jährig aufgrund psychischer Probleme als Oberstudienrätin frühpensioniert wurde, ihr Leben in der einzig ihr möglichen Form: allein in ihrem großen Haus, inmitten von Büchern, Bildern, Möbeln sowie allerhand Kunst und Kitsch aus aller Herren Länder. Womit sich Erna Fitzner umgab, war nicht dem Zeitgeist geschuldet, sondern allein ihren ureigensten geschmacklichen Vorstellungen davon, was schön und interessant war. Ihr Außenseitertum war keineswegs Resultat einer Inszenierung, sondern beruhte auf einer natürlichen Disposition zum Anderssein.

Doch hegte sie zugleich den Traum eines ganz anderen Lebens, der, vordergründig betrachtet, einen eklatanten Widerspruch zu ihrer selbst gewählten Isolation bildete. Im Laufe der Jahre verwandelte sie nämlich das Erdgeschoss ihres Hauses peu à peu in einen literarischen Salon, den sie mit einer Fülle altmodisch bequemer Sitzmöglichkeiten ausstattete und mit künstlichen Blumen in allen nur erdenklichen Formen und Farben garnierte. In diesem skurrilen, die Moden ihrer Zeit schlichtweg ignorierenden Ambiente lebte Erna Fitzner in ihrer Phantasie aus, was im Leben selbst niemals stattfand: literarische Abende mit einer interessierten Zuhörerschaft und anregenden Gesprächen. Eine ausgesprochene Gegenwelt zu derjenigen, mit welcher sie immer weniger einverstanden war und in der sie sich immer schlechter zurechtfand.

Gedanken, Gedichte und Träume mussten zur Lebensgestaltung genügen, nachdem ihre große Liebe zu einem baltendeutschen Germanisten, bei dem sie in den frühen vierziger Jahren in Posen studiert hatte, unerfüllt geblieben war.
Otto von Petersen war trotz seines fortgeschrittenen Alters noch in den letzten Kriegsmonaten eingezogen worden und kurz darauf gefallen. Der wesentlich ältere, verheiratete Mann war nicht nur ihr Geliebter, sondern zugleich ihr Mentor gewesen, ein Mensch, der sie nicht nur geliebt sondern auch fest an ihr lyrisches Talent geglaubt hatte.

Betrachtet man die Fotoalben Erna Fitzners, so gewinnt man den unmittelbaren Eindruck, dass jenes von Petersen geliebte junge Mädchen sich in ihr zeitlebens erhalten habe. Ebenso wie ihrer Haarfrisur im typischen Stil der vierziger Jahre ist Erna Fitzner auch ihren literarischen Vorbildern konsequent treu geblieben, ja in gewisser Weise erscheint sie als Inkarnation jenes berühmten Verses aus Schillers Don Karlos, welchen sie selbst als alte Frau in eines ihrer Hefte notierte:

Sag ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.

Großartige Zeilen, gewiss, doch erweist sich Erna Fitzners unbedingte Treue zu den Idealen ihrer Jugend im Endeffekt als hochproblematisch, ja geradezu entwicklungsverhindernd, konnte ihr an Schillers absolutem Idealismus geschulte Blick die ihn umgebende Wirklichkeit doch niemals anders als unter dem Vorzeichen kulturellen Niedergangs registrieren, ja als eklatanten Verrat an all jenen Wertvorstellungen, welche allein des Menschen Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit im Sinne des Guten, Wahren und Schönen hätten garantieren können. Nach Entwicklungslinien im umfangreichen Werk Erna Fitzners, einer sukzessiven Distanzierung von ihren unerreichbaren Vorbildern sucht man deshalb vergeblich; auf geradezu gespenstische Weise reichen sich ihre ersten und ihre letzten Gedichte sowohl formal als auch inhaltlich über Jahrzehnte die Hand. Noch als 80jährige Frau verfasst sie ihre Gedichte in eben jenem hohen Ton, der Otto von Petersen seinerzeit so für sie eingenommen hatte.

Dennoch wäre es allzu oberflächlich, die Gedichte Erna Fitzners als nur epigonal allesamt vom Tisch zu fegen. Bemerkenswert bleibt allemal ihre absolute Stilsicherheit, ihre stupende Belesenheit und der aus ihr resultierende literarische Anspielungsreichtum; darüber hinaus stößt man bei der genauen Lektüre immer wieder auf einzelne Verse, die unwillkürlich aufhorchen lassen, zeugen sie doch vom bildungsgesättigten Reichtum einer höchst anspruchsvollen inneren Welt, welche im Sinne des antiken Werde der du bist unbeirrt danach trachtet, sich dem klassischen Ideal entsprechend als Mensch zu vervollkommnen. In der Ungleichzeitigkeit von Anspruch und Wirklichkeit liegen Tragik und Triumph der Erna Fitzner spannungsreich beschlossen.

Dass ihr Lebenswerk nach ihrem Tode nicht stillschweigend in den Müll entsorgt wurde, sondern mit Hingabe und großen Respekt für die Eigenwilligkeit der Autorin erschlossen wurde, ist ihrer langjährigen Vertrauten Elke Rosin zu verdanken, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, den imaginären Salon der Erna Fitzner mit Leben zu füllen; und so finden im Dahlemer Literatur und Kunst Salon, Am Hirschsprung 9 seit vier Jahren regelmäßig einmal im Monat jene Lesungen und Musikabende statt, von denen die Gestalterin dieser Räume nur geträumt hatte
Sie selbst hatte das Alleinsein gewählt. Und war wohl, zumindest in dem Maße, in dem die Bitterkeit immer wieder zurückgedrängt werden konnte, auch stolz darauf. In einem kurzen Text, in dem sie ihre Vorstellungen von Lyrik auf den Punkt bringt, schreibt sie:

Der Künstler aber darf sich nicht prägen lassen vom „Geschmack“ des Zeitgeistes. Er muß vielmehr bestrebt sein, diesen zu prägen. Nur so weiß er sich einig mit dem Worte Ibens aus seinem „ Volksfeind“: „Der ist der Stärkste, der sich nicht scheut, allein zu stehen.“

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