Lesart
Gary Snyder* 1930

Was nun Dichter angeht

Was nun Dichter angeht,
die Erd-Dichter,
die kleine Gedichte schreiben,
brauchen Hilfe von niemand.

***

Die Luft-Dichter
wettern die schnellsten Stürme
und räkeln sich manchmal in Prielen.
Anrollend
bricht sich Gedicht auf Gedicht.

***

Bei fünfzig Grad unter Null
fließt kein Brennstoff
und Propan bleibt im Tank.
Feuer-Dichter
verbrennen am absoluten Nullpunkt
wieder hochgepumpte Fossil-Liebe.

***

Der erste Wasser-Dichter
blieb sechs Jahre unten.
Er war mit Seetang bedeckt.
Das Leben in seinem Gedicht
hinterließ Millionen winziger,
verschiedener Spuren,
die im Schlick durcheinander liefen.

***

Mit der Sonne und dem Mond
im Bauch
schläft
Der Raum-Dichter.
Himmel ohne Ende –
Aber seine Gedichte fliegen
wie Wildgänse
über den Rand.

***    

Ein Kopf-Dichter
bleibt im Haus.
Das Haus ist leer,
und es hat keine Wände.
Das Gedicht
wird von allen Seiten gesehen,
überall,
sofort.

Übersetzung von Klaus Martens

Kleine Dichtertypologie

Gary Snyder ist der erste ökologisch orientierte unter den amerikanischen Dichtern, die sich der Natur zuwenden. Ein Titel wie Earth House Hold sagt das bereits 1969 in aller Deutlichkeit aus, auch damals nur wenig verstanden. Bereits als Student am Reed College (Portland, Oregon) beschäftigte er sich mit den Mythen der Ureinwohner des amerikanischen und kanadischen pazifischen Nordwestens – besonders denen der Haida auf den Queen Charlotte Inseln –  und lernte dabei seine ganz und gar un-westliche Art der Lebens- und Naturbetrachtung, die er mit Zen-Studien in Japan verband. Gary Snyder ist der Pionier, der wichtigste Vorangänger aller Bewohner von Landkommunen und Epheben von Meditationsmeistern, ein Vorbild in Lebensaskese und Schreibdisziplin.  Zugleich entwickelte er aus diesen zwei Hauptquellen seine eigenen kontemplativen Gedichte, oft unter Einbeziehung indianischer und japanischer Formen, Textelemente und Schriftzeichen.

Welche Dichter und Gedichte nimmt er in die Galerie des Gedichtes auf?  Es sind die Dichter der Elemente und der Räume.  Sie alle nähern sich dem Gedicht (wenn es das gibt) von ihren Seiten. Das Gedicht ist ein Objekt der Meditation. Die Dichter gehen und sprechen den Weg zum Gedicht, den sie in sich haben. Sie sprechen, was sie erfüllt, wenn sie sich öffnen. Die Welt durchzieht sie. Sie durchzieht sie, wie den Meditierenden, der sich geöffnet, entleert hat, die Welt – sein Gedicht – erfüllt.  Sieben kurze, Tanka-ähnliche  Textobjekte machen Gary Snyders Gedicht. Mehr als sieben wären denkbar. Die, die wir haben, stellen zufrieden, erleuchten, leuchten – auch mit ihrem eigenen, sanften Humor.

Quelle:
Gary Snyder, "As For Poets." Turtle Island. New York: New Directions, 1974: 32. Snyder ist einer der bekanntesten Dichter der "San Francisco School". Die Bände "Earth House Hold" und "Regarding Wave" (beide 1969) zählen zu seinen besten Sammlungen. "Turtle Island" gewann 1975 den Pulitzer Preis. Einige deutsche Übersetzungen von Gedichten Gary Snyders (und seiner Dichterkollegen) aus der Feder Reinhard Harbaums sind in schönen Ausgaben in Harbaums Altaquito Verlag, Göttingen, erschienen.

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