Lesart
Gökçenur Ç* 1971

monument auf die aussichtslosigkeit des erzählens

zwei fenster, gegenüber, auf durchzug gestellt,
der kurze sommer der anarchie auf meinem
                                    schweißnassen nabel,
wie der gebrochene zweig eines judasbaums
                                        liegst du neben mir,
istanbul du, so schön, so gebrochen

wenn der vorhang flattert im wind,
fliegt ein vogel herein
und durchs andere fenster hinaus

reine schönheit, ein moment, so kurz, dass der
                                      verstand es nicht fasst,
ein leben, das sich durch sprache verlängert,
und je länger, je lieber es wird, dann zerschellt.

und dann das glück, danach – ein vakuum.
die armseligkeit des wunders für den betrachter –
ach! erzählen ist aussichtslos.

ein augenblick, den man nie wieder erlebt,
und die schwermut, auf eigene faust zeuge zu sein

Anmerkung: Hans Magnus Engensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. 1. Auflage Frankfurt am Main,1972. Ins Türkische übersetzt von Mehmet Aşçı. Istanbul 1995.

Übersetzung Monika Carbe

Der Moment reiner Schönheit

Gökçenur Ç(elebioğlu) ist 1971 in Istanbul geboren. Seine Kindheit und Jugend sind von einem ständigen Wechsel der Aufenthaltsorte geprägt, so dass er früh Landschaften im Süden, Südwesten und Südosten der Türkei, aber auch die Atmosphäre am Schwarzen Meer erlebt hat. Nach dem Abitur studierte er Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Istanbul, schloss sein Studium ab und erwarb außerdem ein Diplom als Betriebswirt an der İstanbul Üniversitesi. Seit 1990 werden seine Gedichte – und Übersetzungen aus dem Englischen – in zahlreichen Literaturzeitschriften der Türkei veröffentlicht. 2006 erschien sein erster Lyrikband: „Her Kitabın El Kitabı – Handbuch für jedes Buch“ und 2008 „Duvar Yazısı“, die Übersetzung von Paul Auster’s „Wall Writing. The Figures“ aus dem Jahr 1976.

Eines seiner literarischen Vorbilder ist Hans Magnus Enzensberger, wie an dem Gedicht „monument auf die aussichtslosigkeit des erzählens“ zu erkennen ist. Wenn das lyrische Ich den Roman „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“ aus dem Jahr 1972 mitten in einem heißen Istanbuler Sommer liest, so kommt dies einem poetologischen Statement des Autors gleich. In Enzensbergers Roman-Collage geht es um Fakten – und Fiktion, um die Legendenbildung um einen Helden des Spanischen Bürgerkriegs. Bei Gökçenur Ç. wird die lakonische Sichtweise Enzensbergers auf den Mythos Istanbul übertragen – „so schön, so gebrochen“ ist die Stadt, ist das Panorama, das sich dem Ich bietet. Nichts geschieht, abgesehen davon, dass ein Vogel durch den Raum fliegt, etwas Alltägliches, Banales fast – und doch wird der Flug des Vogels zum Ereignis, zum Moment des intensiven Erlebens: Da sind die beiden Fenster, weit geöffnet, und da ist der Blick auf eine der schönsten Metropolen der Welt – ein Moment des Innerhaltens. Und der Autor hält diesen Augenblick in seinem Gedicht fest, spricht davon, dass das Leben „sich durch sprache verlängert“; nur Sprechen und Schreiben bieten die Chance, sich Schönheit zu vergegenwärtigen. Und dennoch scheint es „aussichtslos“ zu sein, davon zu erzählen. Es ist ein Widerspruch in sich, mit dem der Autor hadert. Denn er erzählt ja, er dokumentiert den Augenblick lauterer Schönheit  im Gedicht und errichtet dadurch diesem Gefühl der „aussichtslosigkeit“ ein Denkmal. Im Grunde genommen ist es die Verzweiflung am Leben selbst, das – für ihn – nur durch Sprache einzufangen ist …

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