Lesart
Grit Kalies* 1968

Zeitgeschmack

nur bis sechzig
geht die Stunde, was soll das
Gerede von Hundertschaften
das Radio läuft, ich trinke
im Stehen, studiere die Aufschrift
der Cornflakes-Verpackung
– der Mensch muss sich bilden
aus Eiweiß und Mais, gehärtetem
tierischen Fett, womöglich ist
heute noch niemand gestorben
an dieser belebenden Mischung
gefilterter Kaffee, gefilterte
Nachrichten

Was soll das Gerede von Hundertschaften

Der doppelsinnige Titel „Zeitgeschmack“ gilt einem Frühstück, bei dem das Radio läuft. An sich nichts Besonderes, doch besonders ist, was daraus gemacht wird: Nach einem verschlafenen Protest gegen die Kürze einer Stunde folgt: „was soll das/ Gerede von Hundertschaften“, womit militärische Einheiten gemeint sein könnten. Seltsames Beieinander entfernter Dinge, wie es im Halbschlaf bisweilen produziert wird. Man sieht das lyrische Ich geradezu morgenzerzaust mit sich und der Welt hadern. Der Krieg läuft nebenbei ab, getrunken wird im Stehen. Die Aufschrift der Cornflakes-Verpackung wird „studiert“. Schöne Zweideutigkeit: „der Mensch muss sich bilden“, um im Nachhinein zu erklären woraus: „aus Eiweiß und Mais, gehärtetem tierischem Fett“. Die flüchtige Aussage, dass womöglich heute noch niemand an der „belebenden“ Filtermischung aus Kaffee & Nachrichten gestorben ist, beendet das (offen bleibende) Gedicht.

Härtere beiläufige und unprätentiöse Zeitkritik, die sich selbst mit einschließt, ist mir in der letzten Zeit selten begegnet. Der Reiz des Gedichtes besteht in der Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein des verschlafenen lyrischen Ichs, dem Dinge begegnen, und dem der Autorin, die mit Wortwitz und wie selbstverständlich scheinbar Unvereinbares in eine Bildabfolge bringt. Lakonie und pointierter Scharfsinn in dreizehn kurzen Zeilen.

Quelle: Grit Kalies, „Auf Zeit“, Mitteldeutscher Verlag Halle, 2008.

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