Lesart
Günter Rudorf

Gefangene

Und sie weinen Flüche
und scheuern die Knie an Lappen.
Das ist abends,
wenn der Schrecken kommt
und sie mit gähnendem Maul frißt
und unverdaut auf die Pritschen wirft.
Abends.
Und nachts horchen sie
und schlafen wie andere.
Wie andere.
Nachts erkennen sie sich.
Und dann schreit einer fremd
und spuckt Morgennebel in die Lumpen.
Die Sonne wächst jung
und hat Stacheldraht um die Brust
und freut sich.
Und freut sich allein.

Gedichte wie Scherben

„Schwarz schreit die Sonne“ heißt ein Gedichtband von Günter Rudorf, von dessem Autor ich anfangs nicht viel mehr weiß, als dass er nach dem Krieg als Journalist bei einer westdeutschen Zeitung begann und dann über Sachbücher, Krimis und Kinderbücher bis ins Taschenbuch-Programm von Rowohlt oder Goldmann vordrang, also sein Auskommen mit dem Schreiben fand, ohne je für die deutsche Nachkriegsliteratur irgendeine Rolle gespielt zu haben. Ein Schreibender, der sich auch mit Drehbüchern nach Kommissar-X-Romanheften über Wasser hielt.

Der vorliegende dünne Band Gedichte war sein Erstling, erschien 1947 im Renaissance Verlag in Düsseldorf, und war „dem lebenden und toten Freund Wolfgang Borchert gewidmet“. Rudorf (am 11.11.1921 in Essen geboren) erlebte den Kriegsbeginn als 17-Jähriger und wurde anderthalb Jahre später bereits eingezogen – hoffnungsfroh und abenteuerlustig marschierte eine Generation an die Front und kehrte Jahre später zerworfen und zertreten aus der Gefangenschaft zurück. Ein Rest wie Asche.
Rudorf hatte im Krieg das Schreiben begonnen - Material, das sich als nicht sonderlich haltbar erwies, als er es, zurück in Deutschland, mit einem völlig veränderten Blick prüft. Sonette waren das, an klassischen Vorbildern orientiertes Zeug. Er schrieb dennoch weiter, korrigierte, glich ab, stellte und schrieb um, bis er 36 Stück zusammenhatte, in denen er kritisch mit der Gesellschaft des Dritten Reichs abrechnet und in die er seine Kriegserlebnisse einbringt und die unter dem Titel „Ein Tag soll kommen“ den Hauptteil seines Gedichtbandes ausmachen. Aber kaum, daß er sich selbst überredet hatte, sie tatsächlich zu Ende zu schreiben, befallen ihn Zweifel, ob die strenge Form des Sonetts überhaupt geeignet ist, Gegenwartsstoff zu transportieren („Gedichten gegenüber bin ich misstrauisch geworden“).
Gegenwart ist das, was der Tod übrig gelassen hat. Übrig wie Staub, Schutt, verlassene Zeit und erledigte Welt. Im Übrigen lebt also der Tod. Nicht das Leben, es ist der Rest des Todes, der nicht zu atmen aufhört. Rudorf schreibt eine Reihe Gedichte in freier Metrik – sie bilden den neueren und anderen Teil des Buches, doch auch sie, so sagt er, „liegen nur am Wege“.

Abend im Krieg

Sterne aus Stahl
tanzen in Dreierreihen
krumm über das Land.
Der Abendstern ist auch dabei.
Und Wolken aus weißem Schwefel mit Laternchen.
Dabei ist alles.
Alles.
In den Erdritzen weint die Angst,
und sie heult mit fünfhundert Kilo
darauf zu,
bis keiner mehr Angst davor hat.
Mondlicht schimmelt auf Gewehrschlössern
und lehmigen Kolben.
Die dahinter halbwach warten,
kennen mehr von Bauchschüssen
als von erleuchteten Fenstern.
Die brennen schwarz in Städten,
wo Häuser waren,
und in Bunkern.
Zweiundachtzig Stufen tief.
Unter den Maulwürfen.
Oben stehen zwei wie ein Mensch
und sprechen vom Anderssein.
Und sind es.
Ihre Lügen kleben am Sekundenzeiger.
Das weiß auch der Abendstern,
wenn er marschiert.

 

Es gibt nur den Weg,  alles noch einmal neu anzuschauen, es aus den noch auffindbaren Scherben herauszuklauben und jedem weitergehenden Heilversprechen zu mißtrauen. Was kann schon das Wort? Was können Verse? Das Misstrauen verknappt das Vokabular und reduziert es auf das Wesentliche. Er ist ein gerade eben und gerade noch Davongekommener und ihm sind die elementaren Dinge nah und gegenwärtig wie Exkremente.
 „Ich hänge an diesem Leben“, sagt er, „und ich will nichts anderes, als ihm ehrlich auf den Leib rücken. Denn es ist alles. Das ist alles“, schreibt Rudorf im Vorwort. Uns, denen das Trauma eines Krieges erspart blieb, zeigen die Gedichte heute ein konturenreiches, scharfes Gesicht. Was ihm vielleicht zu schwach, zu leise oder noch zu vage erscheint, ist für uns schon laut, treffend, direkt. Und was ihm nicht weit genug nach Sinn und Inhalt reduziert aussieht, erscheint uns schon reichlich vertieft und bedeutsam. „Die Nacht zersprang in Bächen / aus rotem Pergament. / Der Tote wollte sprechen / vom Tod, den man nicht kennt.“

Rudorf wollte eine Sprache finden und ging mit sich ins Gericht, „ein Leierkasten klirrte: / ... / die Toten sind Verirrte“. Er erzählt uns deutlich und drastisch und denkt trotzdem von seiner Sprache, sie sei schwach und unvollkommen. So vieles reibt in der Mechanik des Leierkastens klein von seinem automatischen Spiel. the same old story, the same old song.
 „Nach der Nacht blieb die Nacht“ – es ist vorbei und doch nicht vorbei. Und es bleibt zunächst unmöglich, die Intensitäten der Wirklichkeit mit Worten zu fassen. Sprechen darüber, während das Erlebte doch sprachlos macht und das Selbst in den Tod verirrt zurücklässt.

Rudorfs Gedichte sind einzureihen in die ernstzunehmende früheste Nachkriegsliteratur. Sie haben alles, was Poesie ausmacht: Authentizität, Leben, sicher beherrschtes Handwerk und schließlich: den leidenschaftlichen Versuch den Ursprüngen der Erfahrung mit Worten nahe kommen zu können. Den er durchaus scheitern spürt.
 

Der andere Mensch

In meiner Brust schläft ein Mensch.
Den kenne ich manchmal.
Wir waren zusammen in Uniform
Und sahen so aus wie ein anderer.
Heute schüttelt der Mensch den Kopf
und sagt ja, wenn ich ihn frage.
Und er hat die Augen in der Hosentasche
und sieht.
An seinen Füßen hängen Propeller,
die nach vorn treiben.
Immer drei-vier tam-tam
drei-vier tam-tam.
Das lassen sich aber
die sechs Splitter in den Fersen nicht gefallen.
Daher kann der Mensch nicht mehr.
Ich spreche mit ihm
wie mit einem Freund,
der mir bald zufällig
das Genick gebrochen hätte.
Ich laß ihn ruhig in mir pennen,
denn er hat sich müde geschrien
und müde geglaubt.
Und wenn er mich dann einmal fragen wird:
Wo ist mein Anzug?
Dann sage ich:
Da.
 

Der Heimkehrer, der aus einem Krieg (mit zerstörten Welten in sich) als nunmehr Fremder in ein verwüstetes Land zurückfinden muss und dort sinnentleert und zerrissen mit Bitterkeit jongliert, ist plötzlich auch im Krieg mit sich selbst, mit dem alten Ich, das immer wieder den alten Raum fordert und findet und trotzdem nicht wieder leben darf. Das alte Ich ist eine leere Hülse, die in der Luft schwebt. Zuviel anderes ist geschehen. Authentisch und ohne Lamento zeigt uns Rudorf, in welchen Höllen er war und was er empfindet, als er zurück ist (sofern man je zurück sein kann aus dem Krieg).

„Schwarz schreit die Sonne / und das Land tanzt dazu.“ – Der Krieg ist ein Tulpenstrauß aus apokalyptischer Potenz, die der Mensch in sich trägt. Was in uns schlummert, damals wie heute, ist ein schweres und wichtiges Erbe. Wir müssen es für uns selbst überwinden lernen, sonst zerschmeißt es uns. Wir erben den Krieg und wer im Krieg war, hat etwas vom Menschen gesehen, das die Verschonten nicht kennen und trotzdem nicht vergessen sollen. Es hört nie auf. Es ist da und zertrümmert uns alles. Es ist im Menschen drin und nicht außerhalb. Es ist nicht die Sonne, sie scheint nur schwarz – durch die Art wie wir durchs Land tanzen.

Und schließlich: die Gefangenschaft. Nach allem, nach dem ganzen erlittenen Blödsinn, den Qualen, dem Leid, dem kotzenden Tod um sich herum, nun auch noch das: Verbrecher sein. Ein ungewollter Mensch. Plötzlich wertlos, bestenfalls bestrafenswert. Grenzerfahrung. In schon wieder anderen Grenzen. Das Leben eingepfercht zwischen Baracke und Stacheldraht, dazwischen die Suche nach sich selbst.

Lyrik hat immer mit Essenz zu tun. Man kann seitenweise gute Prosa schreiben, ein gutes Gedicht gelingt selten. Rudorf schrieb einige wirklich gute, die ich aus der Welt der ungelesenen Bücher wenigstens für mich zurückgeholt habe in die Welt, die mich angeht. Es ist in der Summe kein Buch, das seinen besonderen Wert durch besondere sprachliche Kapriolen erhält, sondern durch das Leben darin.  Das Gedicht „Gefangene“ nimmt genau deshalb gefangen.

Letzte Feuilleton-Beiträge