Lesart
Inge Müller

UNTERM SCHUTT II

Und dann fiel auf einmal der Himmel um
Ich lachte und war blind
Und war wieder ein Kind
Im Mutterleib wild und stumm
Mit Armen und Beinen die ungeübt stießen
Und griffen und liefen.
Bilder ringsum
Kein Boden kein Dach
Was ist — verschwunden
Ich bin eh ich war
Ein Atemzug Stunden
Die andern — ein Augenblick wie im Meer
Da klopft einer —
Den Globus her!
Daß ich mich halte
Brücken und Pole
Millionen Hände brauch ich
Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer
Bis sie kommen und graben
Bis sie mich haben
Du gehst leer.

Inge Müller, Wenn ich schon sterben muss, Berlin und Weimar 1985 (Aufbau), S. 21

„Denn ich bin meinesgleichen“: Inge Müller

Arno Schmidt, ebenso hellsichtig wie befangen in der bornierten Männerwelt der Jahrhundertmitte, beschwört immer wieder die Schreckensmänner der deutschsprachigen Literatur: Autoren wie Johann Karl Wezel oder Karl Philipp Moritz, die mit starkem Eigensinn und wenig Fortüne bezweifeln, dass die Welt ein angenehmer Ort sei. Schreckensmänner verstören das geneigte Publikum mit der Weigerung, zur Behaglichkeit der gebildeten Stände beizutragen. 1776 erscheint Wezels Belphegor, 1785 der erste Teil von Moritz‘ Anton Reiser. Der Abräumer jener Jahre aber ist der 1774 erschienene Roman eines jungen Rechtsanwalts aus gutem Hause, dessen Protagonist sich in einer sentimentalen Anwandlung tötet. Das Publikum jubelt, junge Männer kleiden sich in Blau und Gelb und machen ihm auch sonst einiges nach. Der Verfasser wird zum Popstar. Dagegen sorgen die Schreckensmänner immer nur für die dunkle Grundierung, vor der die Bestseller leuchten.

Nun ist Schreckensmann keine kategoriale Bestimmung, sondern eine Metapher aus dem 18. Jahrhundert, die Schmidt in propagandistischer Absicht zitiert. Schreckensmänner sind Autoren, die nicht in Pfarrhäusern oder im städtischen Honoratiorentum sozialisiert wurden und soziale Ausgrenzung erleben mussten. Das zuweilen beträchtliche Selbstbewusstsein solcher plebejischen Intellektuellen ist geprägt von Defiziterfahrungen. Sie kompensieren mangelnde Geschmackssicherheit durch Eigensinn und mangelnde soziale Geschmeidigkeit durch intellektuelle Schärfe. Schmidt beschreibt damit einen Typus, der im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist, vor allem aber sich selbst.

Dass auch Frauen diesen Typus verkörpern könnten, kommt ihm kaum in den Sinn, wohl auch, weil die Bezeichnung Schreckensfrau eher an die bleichen Gespenster alter englischer Romane erinnern würde. Dabei gibt es durchaus Autorinnen, deren literarische Präsenz etwas Erschreckendes hat, weil sie nicht zur Behaglichkeit der gebildeten Stände beiträgt. Als Frauen müssen sie bis in die Gegenwart hinein nicht einmal plebejischer Herkunft sein, um mit ihren Defiziterfahrungen Außenseiterinnen im kulturellen Gewusel zu sein. Allzu oft stellt sich ihr literarischer Rang erst postum heraus. Beispiele wären Gertrud Kolmar, Hertha Kräftner und eben: Inge Müller.

Nun mag man bei Inge Müller einwenden, dass sie als SED-Mitglied und Heinrich-Mann-Preisträgerin 1959 zumindest in der DDR keine Randfigur des Literaturbetriebs gewesen sein kann. Kann sie sehr wohl: Sie hat 1959 „nur“ zwei Kinderbücher und ein Hörspiel vorzuweisen und erhält den Preis wohl in erster Linie als Mit- und Zuarbeiterin ihres Ehemannes Heiner Müller.

Geboren 1925, erlebt sie im April und Mai 1945 als Wehrmachtshelferin in Berlin die letzten Straßenkämpfe im längst verlorenen Krieg. Am 23. April werden ihre Eltern in Berlin-Lichtenberg getötet: Deutsche Flugzeuge sollen mit Bombenabwürfen auf Wohnviertel den sowjetischen Vormarsch noch aufhalten. Sie selbst liegt drei Tage lang gemeinsam mit einem Hund unter einem eingestürzten Haus verschüttet. Nachdem sie gerettet ist, birgt sie die Leichen ihrer Eltern aus dem Schutt, um sie zu beerdigen. Sie geht einen Handwagen besorgen und muss bei ihrer Rückkehr feststellen, dass ihrer Mutter der Ringfinger mit dem Ehering abgeschnitten wurde. Eine solche Mischung aus Todesgefahr, Schäbigkeit und Absurdität reicht hin, um ein ganzes Leben ins Schleudern zu bringen.

Sie veröffentlicht kaum, immerhin finden ihre Gedichte 1966 Aufnahme in die bedeutende Anthologie In diesem besseren Land (hg. v. Adolf Endler und Karl Mickel). Im selben Jahr nimmt sie sich nach mehreren Versuchen das Leben. In der aufbauwütigen DDR ist wenig Verständnis zu erwarten für Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Sie gerät in Vergessenheit.

Erst 1985 kommen im Aufbau-Verlag Inge Müllers Gedichte heraus: Wenn ich schon sterben muss, herausgegeben von Richard Pietraß. Heiner Müller verfasst ein seltsam distanziertes Vorwort. Die Vieldeutigkeit des Buchtitels (temporales oder konditionales wenn / betontes oder unbetontes schon: sobald / falls / WENN schon / wenn SCHON) charakterisiert ihre Einstellung zum Leben.

Nun ist es unsinnig, den Wert von Gedichten aus den Biografien ihrer Autor*innen herzuleiten, doch genauso unsinnig ist es, die Lebensspuren zu ignorieren, die in die Gedichte eingeschrieben sind. In jedem Gedicht sind zwei Stimmen zu hören, unisono, doch nie ganz synchron, aufeinander abgestimmt, doch nie ganz harmonisch, meist unterschiedlich laut: der Monolog des Individuums und der artifizielle Sound des Kunstwerks. Inge Müller besteht auf diese Zweistimmigkeit. Bei ihr übertönt keine der beiden Stimmen die andere.

Die wenig gelungenen Seiten
Aus meinen kaum gelungenen Gedichten
Wird man auswählen,
Um zu beweisen
Ich wäre euresgleichen.
Aber dem ist nicht so:
Denn ich bin meinesgleichen.

(aus dem Nachlass)

*

UNTERM SCHUTT II

Und dann fiel auf einmal der Himmel um
Ich lachte und war blind
Und war wieder ein Kind
Im Mutterleib wild und stumm
Mit Armen und Beinen die ungeübt stießen
Und griffen und liefen.
Bilder ringsum
Kein Boden kein Dach
Was ist — verschwunden
Ich bin eh ich war
Ein Atemzug Stunden
Die andern — ein Augenblick wie im Meer
Da klopft einer —
Den Globus her!
Daß ich mich halte
Brücken und Pole
Millionen Hände brauch ich
Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer
Bis sie kommen und graben
Bis sie mich haben
Du gehst leer.

Sie thematisiert ihre tiefe Verstörung als Zwanzigjährige, bleibt dabei ganz meinesgleichen, produziert zugleich gelungene Seiten. Der Titel des Gedichts ist deskriptiv, ohne jede sentimentale Dramatik, wie sie in „Verschüttet“ oder gar „Lebendig begraben“ anklingen würde. Mit Unterm Schutt wird das Todesangst auslösende Erlebnis versachlicht, im ersten Vers erfolgt eine jähe Wendung ins grotesk Komische. Und dann fiel auf einmal der Himmel um erinnert an Jacob van Hoddis: Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. (Weltende) Und tatsächlich, Ich lachte wie ein Kind, das sich herzlich schadenfroh über ein Missgeschick amüsiert. Aber da ist niemand eine Torte ins Gesicht geflogen, da ist der Himmel eingestürzt, das Kind ist blind für diese Katastrophe, es ist ihr schutzlos ausgeliefert. Es fühlt sich zurück im Mutterleib, der aber nichts Bergendes und Schützendes hat, das hat er nur für die, die ihn noch nicht verlassen haben. Dieses Kind ist ja kein Kind, sondern eine junge Frau, gierig nach der Welt und nach dem Leben. Dieser Mutterleib ist ein Raum ohne Außen, der seine Gefangene zum zappelnden Nichtgeborenen macht. Für jemand, der Bilder des Außen in sich trägt (Boden – Dach), der bereits gelernt hat, sich in Raum und Zeit zu verorten, ist das Was ist — verschwunden. Ein Augenblick wie im Meer, doch keine ozeanischen Gefühle, statt dessen qualvolles Ertrinken, Atemnot: Ein Atemzug Stunden. Und mit dem erzwungenen Aufenthalt in dem engen Hohlraum, seit der Verwandlung in den falschen Embryo, läuft die Zeit rückwärts, aus der Gegenwart in die Vergangenheit: Ich bin eh ich war. Da ist keine Zukunft für die junge Frau, der das Atmen so schwer fällt. Die andern sind nur noch ein Wort, aus jedem Zusammenhang gerissen, bis es plötzlich wieder ein Außen gibt: Da klopft einer. Der Tod ist besiegt. Im Übermut des Davongekommenseins streckt das Kind, das keins mehr ist, wie im Spiel dem Tod die Zunge raus: Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer / […] / Du gehst leer. Der Triumph über den Tod kehrt das beliebte (und bequeme) Vanitas-Motiv ins Gegenteil. Das gefällige Bedenken der Sterblichkeit weicht einer kindischen Euphorie, die so erleichternd wie unrealistisch ist. Der Münchener Bilderbogen Nro 106 von 1852 hat ein Bild dafür gefunden:

Sie ist zurück in der Welt mit ihren Polen, die Energie erzeugen, mit ihren Brücken, die verbinden, dem Globus, der Boden unter die Füße gibt, Millionen Hände sollen sie halten. In solchem Überschwang ist die Enttäuschung bereits angelegt.

Eigensinnig wie das ganze Gedicht ist Inge Müllers Arbeit mit Reim und Rhythmus. Zum einen fällt auf, dass der Reim konsequent verwendet wird, ohne dass das Metrum geglättet wäre. Normalerweise strukturieren die Metren den Atem, geben die Wiederholungen des Reims ein beruhigendes Gefühl der Berechenbarkeit. Versmaß und Reim schaffen eine Verlässlichkeit, auf die sich sicher bauen lässt. Hier spiegeln die Metren das Japsen der Ertrinkenden, und der Sinn des Reims liegt gerade in seiner Bedeutungslosigkeit, der Gleichklang ist bloß ein beiher spielendes Moment von ebenso zweifelhaftem Nutzen wie die kindische Euphorie der Geretteten. Metren und Reime Ausdruck haben etwas vom panischen Pfeifen im Dunklen.

*

Durch die zyklische Gestaltung Unterm Schutt I bis III kippen wie im Kaleidoskop die Erinnerungsfragmente in neue Konstellationen, sie gewinnen Form und verlieren für einen Augenblick ihre bedrohliche Macht.

UNTERM SCHUTT III

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.

In diesem kurzen Gedicht gibt es vordergründig keine Verzweiflung, kein Ringen mit dem Tod, keinen Triumph des Lebens. Da fällt kein Himmel um, sondern ein Haus auf mich. Nicht mehr Jakob van Hoddis‘ lächerliche Apokalypse, sondern Buster Keatons wundersames Bestehen der Todesgefahr wie in der berühmten Szene aus Steamboat Bill Jr.:

 

 

Auch hier zunächst die Reduktion aufs Deskriptive, diesmal anekdotisch eingebunden: Als ich Wasser holte. Auch die Geschichte mit dem Hund ist anekdotisch, aber in der sprachlichen Gestalt des Gedichts wird etwas anderes daraus: Hier wird der reale Hund, mit dem die junge Frau verschüttet war, vom Leidensgenossen zur mythologischen Figur. Mit ihm hat sie gemeinsam eine ungeheure Kraft entwickelt und das Haus getragen. Der Hund ist vergessen, und sie erinnert sich nicht, wie sie es getragen haben. Nur der vergessene Hund weiß vielleicht, was sonst keiner weiß. Dies könnte auch eine Parabel auf das Trauma sein, doch dann wäre das Gedicht etwas, wofür es nicht taugt: Eine psychologisierende Erklärung. Plausibler erscheint, dass die Frau, die nicht unseresgleichen sein will, alle Nachfragen zu dem traumatischen Erlebnis mit rätselvollen Worten abwehrt: Fragt den Hund. Wer die Zeilen liest, bekommt ein Gedicht, aber nichts, was mit Sinn versorgt und mit Tröstungen versieht.

Fragt den Hund!

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