Lesart
Jan Wagner* 1971

rettich

nun stehst du, den ruf der waldohr-
eule im rücken, mit diesem stoßzahn
von rettich da, ertappt wie ein wilderer.

und hier an deinem küchentisch, blaß
vor einem klotz mit der kälte von marmor
und schwer wie ein unterschenkel apolls,
ein mittlerer amor,

beschleicht dich das gefühl, du habest exakt
um sein gewicht an gewicht verloren,
würdest noch leichter, leichter. draußen knackt
der wald, rückt auf mit augen und mit ohren.

geschrumpft zu wenig mehr als einem nugget,
eine feder im windzug, nichts als ein flaum
vor diesem stummen albinogott,
sieht man dich kaum.

sein name, der wie ein seufzer entwich,
ein stoßgebet: hätte ich, hätt ich ...
dein haus liegt kalt und unbewohnt
unter dem rettichmond.

 

Aus: Jan Wagner: Die Live Butterfly Show. Hanser, 2018.

Stoß Zähne und rett dich!

Das Kennzeichnende an der Bilderpolitik von Jan Wagner sei erläutert an einem weißen Rettich. Bei Wagner wird er zu einem Stoßzahn, oder der Stoßzahn wird zu einem weißen Rettich. Diese Bildvergleichstaktik ist eine etablierte, stabil funktionierende und nachgerade ein Traditionselement der modernen Lyrik. Es funktioniert bei Wagner meistens auf der optischen, akustischen, haptischen, jedenfalls sinnlich wahrnehmenden Ebene und selten auf jener, auf der Sinntiefen und Prinzipvergleiche sich einander reiben und zu eben auf andere „sinnliche“ Art und Weise inspirierenden Leseerlebnissen führen. Das finde ich den traditionalistischen Moment in Jan Wagners Lyrik, der dem ungeübten Leser allerdings dadurch dezidiert entgegenkommt, weil damit dessen traditionellen Erwartungen auf moderne Weise erfüllt werden.

Wenn der Rettich aber per Stoßzahn zum Eindringling wird, mit dem man die Grenze zu einer fremden Welt einreißt und zum Bluten bringt, taucht etwas Prinzipielles auf, und das passt hier nicht. Der Stoßzahn ist ein Instrument seinen Besitzer im Außen zu etablieren, Grenzen zu überwinden und Existenzmöglichkeit zu sichern. Ein im Gedicht gebrauchter Vergleich mit einem Stoßzahn ist also zunächst irritierend, weil wirklich ungewöhnlich, ist aber als Irritation hier nicht gewollt, sondern es geht darum einen überraschenden Vergleich zu platzieren und darin einen Beweis für funktionierende Phantasie zu haben. Letzendes die logische Folge eines bildlich poetischen Sprechens „wie man sich das vorstellt“. Ein Wort näher „dem zitternden Schaum, / in den du hoch / mit deiner Schaukel / fliegst.“ (Rainer Malkowski)

Warum sich experimentelle AutorInnen schwer tun mit Wagners Lyrik ist genau das: er bleibt zu oft beim Herkömmlichen und in den etablierten Techniken, ohne die Bildwelten inhaltlich in andere als sinnlich wahrnehmbare zu schicken, damit sie im Text neuartige Räume anderer Tiefe erzeugen mögen. Stattdessen ist das Verglichene gut ausgeführt, aber profan, weit hergeholt, aber zu nah an der Üblichkeit (was uns der Kritiker Denis Scheck mit seiner Bemerkung, Wagner sei endlich mal ein Lyriker der gepflegten Erscheinung, bemerkenswert bildhaft belegt – wer solche Fürsprache auslöst, tut das gewiß nicht aufgrund der Radikalität sondern aufgrund der bourgeoisen Verträglichkeit seines Tuns).

Es gehört natürlich dazu, daß Bilder ordentlich ausgeführt sind. Oft ist es bei Wagner so, daß mehr oder weniger das gesamte Gedicht dazu dient eine Grundidee in sprachlich anspruchsvoller Weise als Bild durchzuexerzieren. Das ist dem Gedicht als komponiertes Gesamtkunstwerk durchaus zuträglich und betont die Gültigkeit einer bestimmten lyrischen Artistik als zielführend hin zum Stück, zum piece, zum Kanonfixit. Es ist aber zur anderen Seite hin so sehr Althergebrachtes, daß ein Jazzer hier eher von Schlager sprechen würde, als vom chimärischen Faszinosum des Spiels. Der Öffnung ins Weite ist bei Wagner die kunsthandwerkliche Zuarbeit ins Erwartbare entgegengesetzt, was nicht heißen kann, daß Erwartbares kein gültiges Ziel sein darf (da es in diesem Fall mit den Reizen des Unerwarteten spielt). Ein gutes Gedicht darf so sein, wie man sich ein gutes Gedicht vorstellt. Aber wenn man diesen Gedanken verläßt und ausprobiert, was denn überhaupt ein Gedicht sein kann oder ein Text alles kann, dann verläßt man automatisch jeden Bediencharakter und tanzt in den Grenzen von erfolgreich Bebrütetem und Rührei, die Spanne ist groß, weil man letztenendes noch nicht sagen kann, ob das, was herauskommt eher einem Falken oder einem Brei gleicht.

Ich denke, daß der in Teilen der Lyrikszene oftmals vorgebrachte Widerstand gegen Jan Wagner als erfolgreichem Beispiel für zeitgenössische Lyrik, damit zu tun hat: der im Spiel zu erweiternde Begriff des Gedichts stößt sich an einer handwerklich hochgradig veredeltem Unirdischkeit älterer Machart. Und die Nostalgiker stoßen sich an der Unzugänglichkeit des noch nicht Etablierten, dem Offenen, dessen Ausgang oft nicht klar ist, sein kann, weil prinzipiell dorthin getrieben, wo es das Erwartbare nicht mehr gibt.

Was ist dabei Erde? Das Konglomerat aus Restwelt, in dem noch alles durcheinander ein bloßes Substrat ergibt, ist immer irdisch, und zeigt sich als individuelle Grundlage jeden Textes. Was DichterInnen machen ist eine Arbeit in dieser Erde, die vom Traditionellen zum Experimentellen reicht und so mithin nicht vergleichbar ist, auch wenn sie – von außen betrachtet – beide dasselbe tun. Sie tun eben nicht dasselbe. Sie vollziehen absolut individuelle Bewegungen in absolut individuellem Substrat. Und das eine ist so irdisch wie das andere. Unterirdisch wird’s, wo die Kritik das eine im Vergleich zum anderen präferiert. Man sei hier dann gewappnet statt über Geschmackssachen über chthonische Kräfte zu sprechen, deren Anwendung, Verweigerung oder Leugnung, deren Erledigung und Instandhaltung dann doch einen Unterschied machen: ob einer nur den (alten) Stiefel gelten lässt oder auch den Barfuß und die unbehemdeten Varianten eines Selbsts, das sich nicht reinwaschen kann mit Sprache, sondern weiß, es befleckt sich mit Tun und Nichttun gleichermaßen, ohne die Chance auf Absolution durch die Kunst. Das Gedicht spricht nicht frei, sondern zeigt den Versuch die Unfreiheit des Sprechens aufzubrechen entweder direkt im Textgeschehen oder indirekt durch die Behauptung, kunsthandwerkliches Gelingen überwinde die unterirdische Wucht gültiger als das Spiel mit deren Physik und Chemie.

Diese zwei Hauptströme sehe ich, Jan Wagner als Meister der durchprobten Moden, mehr experimentelle AutorInnen als durch Beprobung autochthon aber (vorerst) unmodisch Gewordene, denen (noch) keiner zuspricht. So kann der eine durchgehen als Teil des Establishements, wo andernorts noch verhandelt wird, wie Gehen geht. Darin liegt der Grund der seinerzeit durchwachsenen Reaktion in der zeitgenössischen Lyrikszene, als Wagner den Leipziger Buchpreis erhielt: viele sind mit ihrer lyrischen Arbeit längst über die dort prämierten Aspekte hinweg und darüber hinaus, und wähnten sich nicht gesehen / übersehen (was auch so stimmt). Mit einer Neiddebatte hatte das null zu tun! Eher mit der Sorge mühsam aufgesuchtes und betretenes Terrain entwertet zu sehen in einem Wechsel zurück von casual auf Krawatte und dem Scheckschen Wunsch1nach gepflegter Erscheinung. Neben der Freude für „die Lyrik“ gab es die berechtigte Sorge, der Segensreichtum der plötzlichen Popularität helfe vielleicht ein Dichten zu evozieren, das die gerade überwunden geglaubten Traditionen wieder aufruft und Dekonstruiertes restauriert.

Das sehen wir im Moment. Oft angereichert mit Pathos gibt es harte Trends zurück in altes Verstehen oder Pseudofortschritt in ein Revival des Ichlingdings der Siebziger. Vielleicht muß man sagen, ist es so, weil das Avantgardistische in der Vergangenheit zu sehr immer nur mit dem Kopf daherkam, konstruiert, eloquent,  formal getrieben, a bisserl spinnert und kaum von lebendiger Qualität. Die Jan Wagner beispielsweise mit seinem Rettich bietet – immer aufm Sprung was die Umweltung sein kann, im Poetischen sein darf, am Auflösen, wo sich Grenzen ziehen, am Übertreiben, wo mans gar nicht denkt. Der große bleiche Rettich wird zum Albinogott und der Mensch verschwindet hinter dessen Imposanz. Da ist Humor und Wunder zugleich, versammelt sich Unbeschwertheit mit der Brise Nachdenklichkeit, die genehm ist. Ich hörte einen Witz in einer Bauernkneipe im Spessart, wo jemand einen gegenüberliegenden Hausbewohner, dem er nichts zurufen kann, warnen will, in die Küche rennt und zurück kommt und einen Rettich zeigt: Rett Dich! Rett Dich!, weils Haus gerade zu brennen anfängt. Auch diese Art Sprachwitz läßt Wagner nicht aus und kleidet möglichen Gleichklang in das  „stoßgebet: hätte ich, hätte ich ...“.

Wagner kanns halt, kann bspw. aus der Begegnung mit einem alten Biker ein Gedicht machen, der davon erzählt, wie der Graureiher ihm den Teich mit japanischen Karpfen leerfrißt. Er kann vor einer Lampe sitzen und das flackernde Licht bei sich sehen als Zelt und sich selber als Arktisforscher, dem das Licht Heimstatt gibt, während er vor Hunger die Ledersohle seiner Schuhe verspeist. Ich meine diesen Satz übers Können ungemein ernst. Er ist ein Könner, aber für meine Begriffe ein Könner der Oberfläche und gefällig. Der Albinogott im Rettichgedicht z.B. hebt ab optische Attribute, aber: das Albinotische als besondere Genkonstellation ist dabei denkbar schlecht lenkbar, weil mein Kopf hier eher die alleinstellende Störung der Biosynthese von Melaninen wahrnimmt, anstatt pur auf die sichtbar farblose Oberfläche abzuheben. Und Gott als Zeichen der Größe?,  das ist nun wirklich keine Metaphernwucht, - raffinesse und auch kein Metaphernspaß. Der Albinogott will – in meinem Kopf – nicht passen und nicht zünden. Im Wunder Rettich, das immerhin den Kern des Gedichtes abgibt, sind – für mich - ganz andere Dinge aufgehoben, das Wunder Erde, das Krallen von Wurzeln, das Reservoir des Lebens, das Aufheben der Photosynthese im Fruchtfleisch, das Geteiltsein in unter- und überirdische Welten.

Unter der Oberfläche ist das auch in Wagners Text zu orten, durch die hohe Verehrung, die er dem Rettichtrumm angedeihen läßt, und er will, daß ich das nachspüre, spricht mich direkt an, „du hast so lang an ihm gezerrt“, „beschleicht dich das gefühl“ … und erreicht mich nicht. Denn ich bin anders, ich habe in meinem Leben viel in der Erde gewühlt, auch mit der Hand, Saat ausgebracht, Pflanzen gehegt und gepflegt, gemulcht, Schnecken geklaubt, ich habe eine andere Verbindung zu diesem Thema, der Rettich hat eine Verbindung zu mir und ich zu dem Rettich, ich entdecke in ihm auch mein Bemühen, er ist mein Baby. Er ist kein anbetungswürdiger Fremdkörper, sondern ein Teil von mir und ich brauche ihn. Er ist mein Stoßzahn in die Unbill meiner Umweltung.

***

Literatur

Die Live Butterfly Show
Jan Wagner
104 Seiten
Hanser Berlin
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26043-6
Deutschland: 18,00 €

  • 1. Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr erwarten?“ Denis Scheck, 2015

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