Belutschistan Joe im Hotel Petit Chaperon rouge
In der Bude waren es mindestens 60 Grad,
und jedes Mal wenn er einen ließ,
fing die lila Überdecke zu glühen an
und verkohlte ein Dutzend Wanzen.
Er hatte die Füße in einem Eimer mit
geschmolzenen Stangeneis und eine Flasche
dampfendes Bier in der Hand,
saß am Schreibtisch während die Handelsvertreter
und untergetauchten Dealer nebenan
Rühreier kochten, und schrieb:
Rilke, Rabat, Rübezahl, oh
rosenfingrige Dämmerung
über dem alten Filmriß...
Quark in dieser Richtung.
Die Tür ging auf, wahrscheinlich
waren die Angeln geschmolzen,
und der pockennarbige Zuhälter
aus der Pharmacie gegenüber
schob eine verschleiert Fatima rein.
Halt mal, Mustafa, sagte Joe,
ich hab diese verdammten Klischees
bald satt, demnächst krieg ich
den Schiller-Preis und dann Africa,
Addio!
Mustafa nickt nur
und verschwand.
Die Fatima
nahm Joe die Bierflasche
aus der Hand, trank sie ex
und zog sich aus.
Bei Lumumbas Ohr! sagte Joe,
du kannst meine Rühreier
und meinetwegen auch meinen Schwanz
haben, Fatima, aber nicht
mein Bier!
Ah, sagte sie und faltete ihren
Schleier zusammen, Männer!
was ihr könnt, kann doch jede Gurke,
jede verrunzelte Steckrübe, pah!
auf der Schreibmaschine, ja, da könnt ihr
euch einen runterholen, euch vollügen,
gegenseitig abwürgen, Politik, Feuilletons,
der ganze Schwindel in euren Köpfen,
plus Vivaldi und Schiller, und wenn das
nichts nützt, die Legion! ah!
lauter Giganten, lauter Propheten,
Mohammeds en masse, und wenns drauf ankommt
fickriger als die fickrigste
Maus...
DAS LASS ICH MIR NICHT BIETEN,
DU VERLAUSTE PILLENDREHERIN!
schrie Joe und achtete nicht
auf verschiedene platzende Adern,
DEINE MUSCHI IST JA SCHON MIT MOHAMMED
OBSOLET GEWORDEN! JAWOHL! VIVALDI! JAWOHL!
SCHILLER! JAWOHL! FEUILLETON! DAS ABENDLAND!
JA! RILKE! AH WIR! JAWOHL DIE LEGION!
SCHWÄNZE HART WIE KRUPPSTAHL! DAS SALZ
DER WÜSTE GOBI! OH RÜBEZAHL!
und er warf sich
auf Fatima
und fiel in Ohnmacht.
Als er zu sich kam
war es Dämmerung,
der Muezzin heulte,
und auf der Schreibmaschine
saß eine Maus
und schiß.
Aus: Trotzki, Goethe und das Glück (Gedichte 1974–1979)
(Erstmals erschienen 1979 im Verlag Rogner & Bernhard, München.)
JAWOHL!
Dass es so eine vielfach verkorkste Sache ist, die Aktualität einer Dichtung zu behaupten, deren Autor lange tot ist, zeigt sich vor allem dann, wenn dieser Schimmer vermeintlicher Aktualität gleichmäßig verteilt über dem ganzen Text liegt, neblig, nirgends greifbar, aber überall. In diesem Fall wird die Aktualität zum wohlfeilsten Grund, warum man in einem bestimmten Moment gerade auf dieses Gedicht zeigt und nicht auf jenes. Was aber heißt da „deren Autor lange tot ist“? Jede Dichtung spricht aus der Vergangenheit heraus; es geht nur um den Punkt, an dem das Wasser so tief wird, dass ich nicht mehr stehen kann, und der Unterscheid zwischen drei und dreihundert Metern marginal wird. (Gerade hier zeigt der Tod, was er für einen wohlfeilen Grund hergibt.) Nur weil die „Lieder der Griechen“ von Wilhelm Müller, die in den 1820er-Jahren geschrieben und für die Sache der griechischen Revolution laut wurden, Verse enthalten, die sich mühelos in den Sud der Schlagzeilen mischen könnten, die in letzter Zeit aus dem Wortfeld „Griechenland“ geschöpft werden, ist das nicht Aktualität; dass die Gedichte um die Frage kreisen, wie und ob Mitteleuropa Militäreinsätze bei Revolutionen im südlichen Mittelmeerraum gestalten sollte, schon eher. Beides allerdings ein wenig. „Wenn hinten, weit, in der Türkei“. Rede von Aktualität ist mit Eile verbunden und unterschlägt naturgemäß zumeist die mitgeschriebene Sprecherinstanz, wenn ein Satz aus gegebenem Anlass hervorgezogen wird. Wie Goethes Verse „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen.“, die gern aktuell als Beweislast für des Dichters vermeintliche politische Wurstigkeit etc. herangezogen werden, aber de facto in einem Gespräch dreier Witzfiguren fallen.
Da lasse ich lieber den gegebenen Anlass unscharf, wenn ich eine besonders schöne Figurenrede von Jörg Fauser zitieren möchte. Belutschistan Joe im Hotel Petit Chaperon rouge, V.54ff.Das Gedicht ist mit „Rabat, 31.7.1975“ datiert, es spricht ab V.50 Belutschistan Joe, kurz vor der Ohnmacht, in hitziger Situation. Nicht erst die wunderbare Inquit-Formel „schrie Joe und achtete nicht / auf verschiedene platzende Adern“ deutet sehr darauf hin, dass hier jene, die zu wissen glauben, „was gesagt werden muss“, lernen können, wie das geht. Wie gute politische Lyrik weiß, die Distanz muss groß sein und sich in jeder Richtung die Waage halten; die Situation darf nicht ausschließlich politisch sein, sondern eher gewöhnlich; und alle Menschen müssen Brüder werden, wo der Flügel der Ironie weilt und zittert und sie alle anspricht, uns mit; mit stürmischer Bejahung einer nebligen Aktualität; auf mehr als eine Krise anwendbar; durch eine Figurenrede gebrochen und so von vielen Stimmen erzählend, denn nur so ist allen und letztlich auch uns zu helfen.
„DEINE MUSCHI IST JA SCHON MIT MOHAMMED
OBSOLET GEWORDEN! JAWOHL! VIVALDI! JAWOHL!
SCHILLER! JAWOHL! FEUILLETON! DAS ABENDLAND!
JA! RILKE! AH WIR! JAWOHL DIE LEGION!
SCHWÄNZE HART WIE KRUPPSTAHL! DAS SALZ
DER WÜSTE GOBI! OH RÜBEZAHL!“
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