Lesart
Johann Wolfgang von Goethe* 1749† 1832

Spruch

"Hat man das Gute dir erwidert?"
Mein Pfeil flog ab, sehr schön befiedert,
Der ganze Himmel stand ihm offen,
Er hat wohl irgendwo getroffen.

Auf der Metapher ins Blaue fliegen

Ist es fair, eine Metapher auseinanderzunehmen? Warum nicht. Wir werden sehen, ob sie es verträgt.
Zunächst wenden wir aber den kleinen didaktischen Trick an, uns dumm zu stellen. Wir legen ein altmodisches Löschblatt über die Zeilen zwei bis vier und haben nur den Eingangsvers. Seine Frage steht in Anführungszeichen, also macht der Autor, statt das lyrische Ich rhetorisch sich selbst befragen zu lassen ("Hat man das Gute mir erwidert?"), eine kleine Szene auf und springt unvermittelt in einen Mini-Dialog, wie er zum Genre seiner volkstümlichen, oft vierzeiligen "Sprüche" gut passt (siehe "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?").

"Das Gute" - abstrakter Begriff, den der Leser aber alsbald mit Vorstellungen füllt. Etwas Gutes, das sich erwidern lässt, muss eine soziale Handlung sein, ein Geschenk, eine Hilfe, eine Rettung. Die Erwiderung wäre dann eine Gegenleistung, ein Lohn, zumindest aber Dankbarkeit. Aha. Wir ahnen schon, wie dieses kleine Gespräch, etwa an der Supermarktkasse, weitergehen wird. Auf die Eingangsfrage gibt es eigentlich nur eine bejahende oder verneinende Antwort. Probieren wir die Möglichkeiten aus: "Hat man das Gute dir erwidert?" -  "Ja, das hat man." Dies wäre allerdings kein Anlass für ein Gedicht, sondern so langweilig wie Rotkäppchen ohne Wolf. Näher liegt die missmutige Auskunft: "Nein, man hat natürlich nicht, denn Undank ist der Welt Lohn." Nun ist Goethe aber kein grantelnder Schopenhauer. Wir schlagen ihm versuchsweise vor: "Man hat mir das Gute zwar nicht erwidert, aber Gott im Himmel wird es mir dereinst lohnen." Nein. Ein frommer Bruder ist Goethe auch nicht. Nun könnten wir noch anbieten: "Man hat mir das Gute nicht erwidert, aber ich tue es ohnehin um des Guten willen." Sehr edel, aber auch sehr moralisch, vielleicht eher schillerisch.

Nun kommt unter dem Löschblatt die Überraschung zum Vorschein: Der Sprecher antwortet gar nicht auf die Frage. Er erzählt stattdessen etwas von sich, und zwar, im Unterschied zu dem allgemein gehaltenen Eingang, im Modus der Anschaulichkeit. Die beliebte und überaus geläufige Metapher des Pfeils! Ganze Assoziationsreihen fallen uns sofort ein, vom Pfeil des Jägers und Kriegers, des tötenden Gottes bis zum Pfeil Amors, der die süßen Wunden bringt. Eins ist aber allen Verwendungen gemeinsam: der Pfeil ist der Inbegriff des Gerichteten, genau Gezielten, weswegen er auf unserer Straßenbeschilderung noch immer weiterlebt. Zugleich signalisiert er eine aggressive Handlung. Er ist spitz, will treffen und verletzen. Tatsächlich heißt das letzte Gedichtwort "getroffen".
Schauen wir uns aber den Vorgang näher an, fängt die Metapher stark an zu wackeln. Nach der Logik des Gedichts müsste der Abschuss eines Pfeils als gute Tat gelten, das ist schwer einzusehen. Zweitens wird der Pfeil buchstäblich ins Blaue geschossen ("der ganze Himmel stand ihm offen" - "irgendwo"), also entgegen seiner eigentlichen Bestimmung benutzt. Und drittens: Was gibt es da zu erwidern? Zurückschießen? Sich dafür bedanken, dass man getroffen wurde?

Der Leser muss selber zurechtrücken, was hier schief erscheint, und tut das auch leichthin und problemlos. Mit dem "Guten" meint der Dichter offenbar sein Dichten. Er denkt nicht daran, die sorgfältig bearbeiteten Produkte seiner Kunst ("sehr schön befiedert") gezielt für soziale Zwecke zu verwenden, sondern schleudert sie von sich weg, ins Unbestimmte, zum Beispiel in den anonymen Verteiler eines Verlags. Ähnliches suggerierte schon das Bild der reifenden Kastanien (in dem Gedicht "An vollen Büschelzweigen"), die der Baum generös und sorglos springen lässt. Ist das etwas Gutes? Darüber darf man nachdenken.
Und was profitieren wir, die wir keine Dichter sind, von diesem Vierzeiler? Er stand lange in einem Rähmchen auf meinem Bücherregal, zwecks Ermutigung. Was daran ermutigt, ist weniger die konkrete Aussage als die Haltung des Sprechers und der witzige Miniatur-Bogen, den die Verse beschreiben. Das Gedicht setzt an in den moralisch besorgten Alltagsniederungen, steigt auf ins Weite und fällt zuletzt mit einem schnodderigen Klacks zu Boden. Es lässt sich auf das Feld des Erwartungsdrucks und der Aufrechnung guter Taten überhaupt nicht ein.
Was hier in souveräner Alters-Lässigkeit ins Blaue geschossen wurde, ergibt im ganzen trotz der zweifelhaften Metapher eine stimmige Weisheit, hat also irgendwo getroffen.

Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1 "Gedichte und Epen", darin: "Alterswerke/Sprüche". Herausgegeben von Erich Trunz, C.H. Beck 1996 bzw. dtv 1998

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