Lesart
Luigi Pirandello* 1867† 1936

Der letzte Kaffee

Nicht schlafen können
ist für alte Leute ein schlechtes Zeichen,
der Tod ist nahe:
bedeutet es,
das Getriebe
funktioniert nicht mehr.

Einsam
stößt auf dem Dach
des alten Hauses
gegenüber
ein Schornstein
Rauch
in die Morgenfrühe,
feucht und fahl.
Dort gegenüber
wohnt  ein alter Mann
der wohl in der Küche  
seinen Kaffee brüht.

(Nah ist
der Tod
für den, der nicht schlafen kann.)

Über das Feuer gebeugt
bläst der Alte  kräftig;
dann holt er seine weiße Tasse,
hervor:
drei Stück
Zucker, ach  so bitter
ist ihm der Kaffee immer.
Das Feuer sprüht Funken.

(Lieber Alter,
vielleicht erwartest du mich nicht.
Aber bald
nehme ich dich mit.)

Auf dem großen Platz
schläft noch der niedrige Schatten;
ein paar schwarze
Frühaufsteher
laufen vorbei.
Schwach blinzelt
noch ein Stern.
Es begrüßen die neue
elende Morgenfrühe
von fern und nah
die Hähne. Und dort: hinter
dem Fenster trinkt
der Alte in langsamen Schlucken
seinen heißen Kaffee.
Bevor er trinkt
pustet er;  schließt die Augen:
wer weiß, woran er sich gerade erinnert!
Vielleicht an die dummen
Träume der letzten Nacht.

Aus fernen
weißen Gräbern  
stieg ein Schwarm
Tauben
auf.
Unter dem Kopfkissen
kroch eine Schlange hervor
die ihm
ins Herz biss
ohne ihm weh zu tun.

Noch einen und noch einen Schluck,
Alter, lass dich nicht ablenken.
Weshalb schaust du dich um?
Stille. Stundenschlag.
Fünf Uhr. Wer erwartet dich?
Es ist Tag, siehst du? schon
heller Tag.
Trink deinen Kaffee ruhig aus.

(Dann, lieber Alter,
sei gewiss,
nehme ich dich mit mir.)

Übersetzung von Stefanie Golisch

Der letzte Schluck ist auch ein Ort

Einen weiten Weg hat der italienische Nobelpreisträger von 1934 Luigi Pirandello im Laufe seines Lebens zurückgelegt, bevor er für immer an seinen Geburtsort, die abgelegene contrada caos im sizilianischen Agrigento, zurückgekehrt ist. Von den äußersten Rändern Europas – die Ausblicke seiner Kindheit gingen direkt auf das von den Einheimischen so genannte afrikanische Meer - führte ihn seine Reise über viele Umwege –  unter anderem über Bonn, wo er 1891 als Philologe promovierte - in die Zentren der Modernität: nach Berlin, zu Max Reinhard, nach Paris, London und schließlich sogar in die Vereinigten Staaten. Überall wurde er als der unumstrittene Erneuerer des zeitgenössischen Theaters enthusiastisch gefeiert. Sein wohl bekanntestes Stück Sechs Personen suchen einen Autor, in dem Leben und Theater beständig die Rollen tauschen, darf mit einigem Recht auch heute noch als revolutionär gelten. Pirandello, der Erfolgsautor, Mitglied der italienischen Akademie der Künste, Schriftsteller im Rampenlicht der Öffentlichkeit und doch zugleich ein Zerrissener zwischen Tradition und Moderne, zwischen Her- und Ankunft.

Dass Pirandello neben Romanen, Erzählungen, Dramen und Komödien auch Gedichte geschrieben hat, wissen selbst in seinem Heimatland leider nur die wenigsten Leser. Doch gerade in seinen Gedichten gelangt eine Facette des Autors zum Ausdruck, ohne die sein Gesamtbild nicht vollständig wäre. Neben jener Persönlichkeit, welcher der anhaltende Erfolg die Selbstsicherheit verliehen hatte, sich auf internationalem Parkett souverän zu bewegen, gab es stets auch den Melancholiker, der sich der Scheinhaftigkeit alles menschlichen Tuns und Strebens nur allzu bewusst war - und ihrer Vergänglichkeit.

In seinen späten Gedichten kehrt Luigi Pirandello an die vertrauten Orte seiner Kindheit zurück. Ihre Protagonisten sind meist einfache Menschen aus dem Volke, wie er sie in seiner Jugend in Agrigento kennen gelernt haben mochte, Menschen, deren Leben nichts Spektakuläres anhaftet, die nichts Besonderes geleistet haben und deren Namen die Geschichtsbücher niemals verzeichnen werden. Ein solcher Mann ist auch der namenlose Alte in Der letzte Kaffee, den uns Pirandello in seiner bescheidenen Küche vergegenwärtigt, an einem beliebigen Morgen, herausgesprengt aus dem unbegreiflichen Kontinuum Zeit. Nichts unterscheidet diesen Morgen von den unzähligen anderen, die ihm vorausgegangen sind und an denen der Alte den Tag mit einem heißen, süßen Kaffee begonnen hat. Dass dieser sein letzter Kaffee ist, erscheint in dem Gedicht keineswegs als außerordentliches Geschehen, ja der Tod erlaubt ihm sogar, ihn bis zum letzten Schluck auszutrinken. Nicht anders als er normalerweise in den neuen Tag trat, tritt er diesmal in den Tod, der nichts Beängstigendes hat, sondern als natürlicher, durchaus unspektakulärer Bestimmungsort des Menschen erscheint.

Pirandello selbst, der 1936 im Alter von 69 Jahren in Rom an einer Lungenentzündung starb, hatte mehrere Jahre vor seinem Tode bereits verfügt, dass seine Asche im Schatten eines alten Pinienbaums in unmittelbarer Nähe seines Geburtshauses beigesetzt werden sollte. Inmitten einer archaischen Hügellandschaft aus Mandel- und Olivenhainen, führt heute, hoch über dem afrikanischen Meer, ein eigens zu diesem Zwecke angelegter Weg zu jenem Ort, von dem aus Pirandello in seiner Jugend aufbrechen musste, um er selbst zu werden und an den er zurückkehren musste, um sich in jener Landschaft, die ihn  zugleich hervorgebracht und von sich gestoßen hatte, wieder zu verlieren.

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