Lesart
Rüdiger Kremer

10. August

kurz hinter dem walsroder dreieck
war plötzlich miles davis im radio
ich bin auf den nächsten parkplatz gefahren
und habe ihm zugehört
mit geöffnetem sicherheitsgurt
für einen augenblick gab es die möglichkeit
auszusteigen
über den mannshohen jägerzaun zu klettern
und quer über das weite rotkohlfeld
auf den horizont zuzugehen
ich bin dann nach hause gefahren
der alfa ging ab wie ein bäckerpferd
die anschaffung der schärferen nockenwellen
hat sich gelohnt

Der Ton eines snapshots

„Wenn das Eis geht...“ so hieß ein 1983 zunächst im Verlag Atelier im Bauernhaus, später auch als Taschenbuch bei dtv erschienenes „Lesebuch zeitgenössischer Lyrik“, das sich bemühte scheuklappenfrei Temperamente und Positionen der Zeit abzubilden, ohne sich dabei sicherheitshalber auf bereits etablierte Namen zurück zu nehmen . Der Herausgeber Helmut Lamprecht hatte damals als Hauptleiter der Abteilung Kulturelles Wort bei Radio Bremen eine Sendereihe betreut, die das moderne Gedicht als zuständig für die Zeit ansah und nicht als Objekt germanistischer Mikroskopie. Aus diesen Gedichten entstand die Anthologie. „Hoffnung, Trauer, Zorn, Ironie und Liebe kommen zu Wort“, weiß der Begleittext, denn „die Lyrik ist anders heute: menschlich und hautnah. Sie redet vom Alltag, von Sachen, die man wirklich erlebt und empfindet, und die Leute, die da schreiben, glaubt man persönlich zu kennen, so vertraut klingt das, was sie sagen.“  

Was heute gern als Innerlichkeit der Siebziger verhohnepiepelt wird, war damals ein wichtiger und anarchistischer Schritt, die Hoheit über das Gedicht den studierten Sprachverwaltern zu entreißen und Inhalte dort wiederzufinden, wo auch die innere Musik spielt. Brinkmann hatte schon Ende der Sechziger die Richtung vorgegeben: „Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, dass das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, dass das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als ,snap-shot‘ festzuhalten.“ 

Die siebziger Jahre, in denen man das einüben und verbreitern konnte, haben dabei oft Gedichte hervorgebracht, die vom heutigen Standpunkt aus betrachtet unerträglich subjektiv und manchmal geradezu angestrengt „ehrlich“ sind. Aber wo die Reflexionen kunstvoll angelegt waren, haben sie bis heute gültige und wundervolle Gedichte und Zyklen hervorgebracht (man denke an Meckels „Säure“ oder an „Das Auge des Entdeckers“ von Nicolas Born). In ähnlicher Weise wird man über heutige Schreibweisen als hermetische Luftblase urteilen, aus der nur das überleben wird, was nicht angestrengt bis ins Unerträgliche durchstilisiert, sondern kunstvoll kombiniert, Ausschließlichkeit aufhebt und Isolation überwindet, letztendlich wieder: die Selbst-Verständlichkeit im Kontext sucht, die heute natürlich eine andere ist und heute natürlicher anders ist.

In der Lamprecht’schen Anthologie findet man auch das Gedicht von Rüdiger Kremer (der seine Lyrik hauptsächlich in der Eremitenpresse veröffentlichte), das einfach mit einem Tagesdatum überschrieben ist und wie beiläufig plaudernd von einem nicht gerade aufsehenerregenden Ereignis erzählt: Miles Davis läuft im Radio - „die spontane Musik des Augenblicks“. Miles Davis war so viele Wege im Jazz gegangen, um letzten Endes doch immer wieder in dem komplexen Augenblick anzukommen, der zuließ und sich stets neu definierte als Welt in der Welt von Welten. Mit jedem neuen Ton entstand neue Welt und wer da war, lebte den Ton wie einen Raum. Der späte Miles Davis wollte das grenzenlos Neue und opferte alles, er verbellte die Trompete mit Wahwah und Fuzz und trommelte mit drei Schlagzeugen gleichzeitig den Swing an seine Ursprünge zurück. Es sollte, mußte, durfte etwas geschehen.
Etwas, das nicht nur Zitat von Zitaten war.

Zeit zu haben dafür – etwas geschehen lassen. Ohne Sicherheitsgurt. Neuen Raum haben.
Es gibt die Möglichkeit auszusteigen. Und fortzugehen vom Parkplatz. Die Stelle, auf der man parkt, zu verlassen und alle Zäune und Hindernisse zu überwinden. Über Blaukraut und Brautkleid hinweg.
Diese Möglichkeit haben wir immer, das Leben kann morgen neu sein.
Aber: wir haben da unser eigenes Märchen am Laufen. Immer im Hintergrund. Es ist sehr mächtig und will, daß wir die Geschichte zuende bringen. Es ist ein Alfa und es gibt eine Nockenwelle, die neuerdings spritziger arbeitet, es gibt das Fahren auf der Autobahn und die Freiheit dabei. Es gibt einen alten Traum. Und da wir nicht switchen können von Traum zu Traum, da wir immer eine Zeit lang von innen heraus eine einzelne Geschichte leben und sie zum Märchen auskleiden, bis sie erledigt ist von den Fakten, tun wir uns schwer aufzustehen und zu gehen.
Der 10. August ist ein vorbereitetes Land, in dem unser Märchen spielt, wir begehen es in voller Ausrüstung und Montur und nur selten erwischt uns der Tag nackt. In den meisten Fällen trösten wir uns, dann sind es das neue Parfum und die Frisur, der coolere Schlips oder das breitere Teil, das schärfere Etwas, die augenblicklich den Ton angeben. Nicht der Ton von Miles Davis.

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