Lesart
Salvatore Quasimodo* 1901† 1968

Klage um den Süden

Der rote Mond, der Wind, deine Farbe
nördlicher Frauen, das Schneefeld….
Mein Herz liegt längst über diesem Land,
diesen Wassern, die sich im Nebel wolken.
Ich habe das Meer vergessen, das tiefe
Muschelhorn der sizilianischen Hirten,
den Singsang der Wagen auf den Straßen,
wo der Johannisbrotbaum im Rauch der
                                 Stoppelfelder zittert,
ich habe in der Luft grüner Höhen,
der lombardischen Erde und ihren Flüssen,
den Zug der Reiher vergessen und der Kraniche.
Aber der Mensch schreit überall das
                            Schicksal einer Heimat.
Niemand bringt mich mehr zum Süden.

Oh der Süden ist seiner Toten müde
an den Ufern der Malariasümpfe,
er ist der Einsamkeit müde, der Ketten müde,
er ist in seinem Munde
der Flüche aller Rassen müde,
die im Echo seiner Brunnen Tod gebrüllt
und das Blut von seinem Herzen getrunken haben.
Deshalb kehren seine Söhne zurück in die Berge
zwingen die Pferde unter Sternendecken,
und nähren sich von den Akazienblüten am Weg,
wieder rot, immer noch rot, immer noch.
Niemand bringt mich mehr zum Süden.

Und dieser Abend, wintersatt,
ist noch unser, und hier wiederhole ich dir
meinen sinnlosen Kontrapunkt
aus Süße und Wut,
eine Liebesklage ohne Liebe.

Übersetzung von Stefanie Golisch

Niemand bringt mich mehr zum Süden

Salvatore Quasimodo, Nobelpreisträger des Jahres 1959, wurde 1901 im sizilianischen Modica geboren.
Gerade einmal vierzig Jahre waren bei seiner Geburt vergangen, seit Garibaldis Truppen 1860 die in kleine Fürstentümer und Königreiche zersplitterte Halbinsel mit einem Schlage zu einem Land gemacht hatten, das es so zuvor niemals gegeben hatte: Italien.

Noch heute lebt diese Spaltung, ein tiefes Gefühl der Unzugehörigkeit und der trotzigen Nicht-Identifikation mit dem Nationalstaat tief in den Herzen seiner Bewohner, zumal der des Südens, die sich in erster Linie stets als Neapolitaner, Kalabresen und eben Sizilianer begreifen.

Der mezzogiorno, das ewige Problemkind des Landes, ein gewaltiges kulturgeschichtliches Erbe, Landschaften von faszinierender Vielfalt, aber eben auch Mafia, Misswirtschaft und Rückständigkeit in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Über fünfzig (!) italienische Regierungen haben es nach dem zweiten Weltkrieg versucht, das heterogene Land in ein modernes Staatswesen zu verwandeln; keiner ist es gelungen. Das wirtschaftliche und kulturelle Gefälle ist enorm, das Zusammenleben konfliktreich, da von unausrottbaren Vorurteilen auf  beiden Seiten schmerzlich geprägt.

Um der lähmenden Perspektivlosigkeit zu entgehen, hat es die Menschen seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder zur massenhaften Auswanderung getrieben, nach Amerika und, nach dem zweiten Weltkrieg, in die rasch wachsenden Industriestädte des Nordens, nach Turin und Mailand, und natürlich nach Deutschland.

Die Hoffnungslosigkeit des Südens, die Unwahrscheinlich einer konstruktiven Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen hat Giuseppe Tomasi di Lampedusa am Ende seines epochalen Romans Der Leopard in folgende dürre Worte gefasst: Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie es ist. Für seinen vermeintlichen Zynismus ist er von den so genannten fortschrittlichen Kräften im Lande, sprich der kommunistischen Linken, seinerzeit heftig kritisiert worden.

Fatalismus und Resignation auf der einen, die trotzige Liebe zur Heimat, sprich den eigenen Wurzeln auf der anderen Seite, dies ist der Widerspruch, der die emotionale Verfassung vieler Süditaliener kennzeichnet und die Salvatore Quasimodo in seiner Liebesklage ohne Liebe poetisch auf den Punkt bringt.

Es ist ein sonderbarer Mechanismus, der Menschen bisweilen dazu treibt, das Objekt ihrer Liebe, je unwürdiger es objektiv betrachtet ist, umso vehementer gegen alle Vorbehalte zu verteidigen. Diese besondere Art verzweifelter Liebe spricht auch aus Quasimodos Gedicht.

Wie viele seiner Landsleute hatte auch er seine Heimat bereits als junger Mensch verlassen. Er lebte in Rom und in Mailand, dennoch blieb Sizilien zeitlebens ein, wenn nicht der entscheidende Bezugspunkt seines facettenreichen Schaffens: sei es als kongenialer Übersetzer der griechischen Klassiker, sei es in seiner eigenen Lyrik, die durchdrungen zu sein scheint, von eben jenem archaischen Klang aus dem  Muschelhorn der sizilianischen Hirten, einer längst vergangenen, kaum mehr klar zu definierenden Farbe, welche die Distanz zur Moderne anzeigt und diese zugleich auf ihre Ursprünge in der Kultur des Mittelmeerraumes verweist, sein besonderes Licht -  und seine niemals eingelösten humanistischen Ideale.

Sizilien als lebenslange Herausforderung auf der inneren Landkarte des Lyrikers Salvatore Quasimodo, der 1968 in Amalfi an den Folgen eines Schlaganfalls starb. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Mailänder Zentralfriedhof, seiner zweiten Heimat, nachdem der Weg zurück in den Süden unmöglich geworden war.

Letzte Feuilleton-Beiträge