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Manuskripte
„… das ist kein guter Menschenschlag hier, sagte der Doktor“ Zwei Fragmente zur Entstehungsgeschichte von Thomas Bernhards Romanerstling „Frost“
08.09.2013 | Hamburg
Jenseits von Gut und Böse finden sich in der Literaturgeschichte nicht selten die Werke derjenigen ein, die zu Lebzeiten umstritten und angefeindet sind, ohne dass man sie wegen etwaiger Belanglosigkeit in den Orkus schicken könnte. Der Nachhall des gewaltigen, aus der Quelle der eigenen Unglücks wie des tiefen Unmuts an dem, was ihn umgab, schnell zum Bürgerschreck mutierten Weltgrantlers Thomas Bernhard befindet sich immer noch in einem Stadium, dass man meinen möchte, er hätte eben erst begonnen. Die Schar der Nachahmer ist bis heute ungebrochen, mehr noch – immer wieder tauchen neue, in dieser oder jener Form wenig bekannte Facetten des Meisters selbst auf.
Im Fall von „Frost“, zu dessen fünfzigster ‚Wiederkehr‘ das vorliegende Buch eine besondere Begleitmusik bildet, mag das eine augenfällige Bewandtnis haben. Dessen der Provinz wie auch dem großen narrativen Wurf verpflichteter Plot bildet erstmals vollständig die Welt eines Getriebenen ab, der in seinem inneren wie äußeren Kreisen quasi reziprok gefangen scheint und sein Angefressen-Sein über die Welt mit großer Kelle eben über jene verteilt. Oft genug hat das zu Geschrei und Missverständnissen geführt – die Begebenheiten und wüsten Anfeindungen gegen den Verfasser sind Teil seines Ruhms, Anhalt für ein in Künstler-Augen weithin zerrissenes Österreich-Selbstbild geworden.
Die „Argumente eines Winterspaziergängers“ enthalten zwei der wohl zwanzig Anläufe und Entwürfe zu „Frost“; die Befundlage ist selbst angesichts der hier gesicherten Fragmente nicht immer eindeutig. So verweisen die Herausgeber im editorischen Nachsatz auf die große Schwierigkeit, die sich aus dem Palimpsest der ursprünglichen Skriptblätter ergibt. Entgegen der Tendenz Bernhards, einen Teil des Stoffs für die Veröffentlichung in einer Zeitschrift zu bearbeiten, ist dieser Abdruck nie erfolgt. Im Verfolg der Ausformung sind die Entwürfe als Steinbruch benutzt worden: mit teils wortwörtlichen Übernahmen, oft jedoch der ursprünglichen Dramaturgie de facto entgegengesetzt.
Die Verbindung liegt im Herausstellen des misanthropischen Sprechelements: „… das ist kein guter Menschenschlag hier, sagte der Doktor, die Leute sind verhältnismäßig klein, man steckt den Säuglingen Schnapsfetzen in den Mund, damit sie nicht schreien …“ Oder: „… man hat keine Lieblingskinder hier, sondern nur eine Menge Kinder … im Sommer trifft sie der Hitzschlag, denn ihr feines Gewebe hält der Hitze nicht stand […] der Alkohol hat die Milch verdrängt …“ Der Doktor wird im Zuge der Vollendung des Romans durch den Maler Strauch ersetzt, die anderen Spuren der „Leichtlebig“-Phase, Orts- und Landschaftsverweise etwa, ziehen sich bis in die Werkschicht der „Argumente eines Winterspaziergängers“, offenbar im Original als Satzvorlage konzipiert, hin. Sie sind es auch, die den Bezug und konzeptionellen Anschluss an die frühe Bernhard’sche Prosa ermöglichen.
Interessant ist die Unabgeschlossenheit der Publikationswege im Umfeld dieses Buchs – womöglich dürfte „Frost“, als die markanteste Wegmarke zur typischen Prosa Thomas Bernhards, auch die mit den umfänglichsten Bearbeitungen gewesen sein – das bereits 1989 publizierte „In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn“ gehört ebenso zu ihnen wie das, wenn auch in etwas größerer Ferne, erste große Bernhard-Skript, „Schwarzach St. Veit“, der früheste, 300-seitige, auf 1957 zu datierende Romanentwurf des Autors. Konsequent wäre, auch ihn im Zuge der Edition der hier vorliegenden Fragmente in ähnlicher Aufmachung zugänglich zu machen, eine Aufgabe, der man, wie zu vermuten ist, im Zuge einer weiteren Sichtung des Bernhard-Nachlasses in den nächsten Jahren wohl nachkommen wird und so ein umfassendes Dokument der ‚Werdung‘ dieses Schriftstellers erhält, dessen Erfolg und öffentlicher Ruch bis heute singulär geblieben ist.
Faszinierend ist der Einblick in die direkte Werkstatt Bernhards zu nennen: im dritten Part der Veröffentlichung wird der Auftakt der umfängliche Kreise ziehenden Arbeit am „Frost“-Komplex anhand des dreißig Seiten umfassenden Faksimiles des „Leichtlebig“-Fragments dokumentiert. Gewissermaßen wird so das Ringen um den Stoff wie um die zum Teil mehr als grundbrechenden Neuerungen im Bernhard’schen Schreiben plastisch dargestellt – die Einfügung der nicht selten bis zur Unkenntlichkeit bearbeiteten Skriptblätter in Perlschrift und einer im ringenden Wust wie entfesselten Korrekturkaskade dürften der eigentliche Gewinn dieser ergänzenden Publikation sein. Der typische Sprechakt des Autors bricht sich hier Bahn, setzt das Fanal für das folgende Werk.
So ist „Argumente eines Winterspaziergängers“ ein besonderes, wenn auch durch seinen dokumentierenden Charakter äußerst spezielles Buch, das wohl eher in den Handapparaten der weitgestreuten Bernhard-Forscher und -Stalker seine Verbreitung haben wird als in der grundsortierten Leserbibliothek. Dafür ist der Text- und Faksimile-Steinbruch der „Frost“ vorausgehenden Segmente schlicht zu fragmentarisch und unsortiert – und letztlich selbst der abgeschlossene Roman von 1963, der den Eintritt des Österreichers in die Weltliteratur markiert, zu wenig ‚massenphänomiert‘.
Im Bemühen, die Werkstrukturen dieses Autors bis in die Bearbeitungsschichten kenntlich zu machen, ist dieser der neuerlichen Sichtung und Sammlung des Bernhard’schen Œuvres beizustellende Band allerdings absolut vorbildlich zu nennen; eine solche Umsicht wünschte man so manchem anderen (viel mehr von der Gefahr der Vergessenheit als der Gmundner bedrohten) Autor der Nachmoderne auch.
Thomas Bernhard: Argumente eines Winterspaziergängers, Zwei Fragmente zu „Frost“. Geb., 146 Seiten, 18,95 Euro. ISBN: 978-3-51842-348-6. Berlin: Suhrkamp-Verlag 2013.
André Schinkel hat zuletzt über Essays und kleine Schriften, Werkauswahl von Doris Lessing auf Fixpoetry geschrieben.
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