Der Überflüssige Mensch | Unruhe bewahren

Ein Essay zur Würde des Menschen im Spätkapitalismus.

Autor:
Ilija Trojanow
Besprechung:
Gerrit Wustmann
 

Ein Essay zur Würde des Menschen im Spätkapitalismus.

Wer ist hier überflüssig?

12.09.2013 | Hamburg

„Sind Sie überflüssig?“ Mit dieser Frage leitet Ilija Trojanow seinen provokanten Essay „Der überflüssige Mensch“ ein, der unlängst im Residenz Verlag erschien, und blickt dann rund hundertfünfzig Jahre zurück auf ein Schiffsunglück: Die Elite besetzt ein Rettungsboot nur für sich, alle anderen landen auf einem kaum seetauglichen Floß, das vom Rettungsboot gezogen und im ersten aufkommenden Sturm gekappt wird. Auf dem Floß selbst entbrennt dann die Frage, wer gehen muss, denn es sind zu viele, die sich auf den morschen Planken tummeln. Also wirft man die Schwächsten einfach über Bord.

Mit anderen Worten: Es hat sich bis heute nicht viel verändert. Heute lässt man die Schwächsten, zum Beispiel die afrikanischen Bootsflüchtlinge, einfach vor den Küsten Europas ersaufen, während wenige Meter weiter gut betuchte Touristen auf ihren Yachten durchs Meers schippern und die Aussicht genießen. An Land gespülte Leichen werden nachts vom europäischen Grenzschutz Frontex eingesammelt, damit am Tage bloß nichts mehr sichtbar ist. Dieses Beispiel bringt Trojanow nicht, aber ein ebenso passendes: Es findet ein tagtäglicher Massenmord an den Schwächsten statt, indem man sie einfach verhungern lässt. Das Bild stammt ursprünglich von Jean Ziegler.

Bootsflüchtlinge, Hungernde in armen Ländern – all das scheint dem gut situierten Westler oft weit weg. Es wird dafür gesorgt, dass er es nicht zu Gesicht bekommt, dass sein Gewissen nicht getrübt wird, dass er sich nicht mit seinem Anteil am Elend auseinandersetzen muss. Doch tatsächlich ist die Aussortierung der Überflüssigen längst bei uns angekommen in Form der ganz perversen systemimmanenten Logik des Kapitalismus oder der „marktkonformen Demokratie“, um die Worte von Angela Merkels Waschzettelschreibern zu verwenden. Wer nichts zum System beiträgt, wer also arbeitslos ist oder nicht konsumiert, der ist überflüssig. Trojanow macht wieder die altbekannte Rechnung auf, dass die Mehrheit nur ein Minimum und die Minderheit den größten Teil des Gesamtvermögens besitzt. Überhaupt ist nichts von dem, was Trojanow schreibt, neu. Dennoch ist es wichtig, muss es immer wieder gesagt werden. Muss auf die Irrationalität hingewiesen werden, die sich offenbart, wenn Arbeitslose als faule Schmarotzer stigmatisiert werden, während es noch immer als normal gilt, dass die Geldelite Steuern in Höhe von gut 70 Milliarden Euro jährlich allein in Deutschland hinterzieht. Ein System, in dem der Verwalter von Geld mehr wert ist als die Krankenschwester, ist krank, ist in seinem Innersten verfault.

Längst ist die vermeintliche Überbevölkerung des Planeten ein Thema, das kontrovers diskutiert wird, vor allem in Hinblick auf die Frage, wie sich die Weltbevölkerung reduzieren lässt. Doch, wie Trojanow aufzeigt, ist Weltbevölkerung nicht gleich Weltbevölkerung. Immer geht es um „die anderen“. Die Armen kriegen zu viele Kinder. Gemeint sind afrikanische und asiatische Länder. Dass Holland oder Großbritannien viel dichter bevölkert sind als diejenigen, über die gesprochen wird, interessiert nicht. Das Problem liegt freilich – längst eine Binsenweisheit – ganz woanders: In der Verteilung. Wenn immer weniger Menschen einen immer größeren Reichtum auf sich vereinen und Mehrheiten darben, muss das System des Wachstums zwangsläufig irgendwann kollabieren. Jeder weiß das. Trotzdem ändert sich nichts.

Der Weg aber, so Trojanow, ist vorgezeichnet: Die rasende Technisierung wird in naher Zukunft immer mehr Menschen überflüssig machen, weil ihre Arbeitskraft schlicht nicht mehr gebraucht wird. Zugleich wird es keinen mehr geben, der in der Lage ist, die überwiegend maschinell produzierten Konsumgüter und Dienstleistungen zu konsumieren. Die Eliten aus Wirtschaft und Politik werden sich noch weiter abschotten. Es wird zu Gewalt kommen.

Trojanow appelliert, dass aus der passiven eine aktive Empörung werden müsse, dass der Wille zur Veränderung zu Tat werden müsse. Und so sehr zustimmungswürdig das auf den ersten Blick ist, so sehr liegt doch hier ein Denkfehler, denn auch Trojanow setzt still voraus, dass sich alles zum Guten ändern kann, wenn die jetzt unterdrückten Massen ihr Schicksal in die Hand nehmen und die herrschenden Eliten sowie ihre Handlanger und treu ergebenen Schreibtischtäter entmachten und ein alternatives System etablieren, in dem die Kapital- und Machtkumulation in den Händen Einzelner unterbunden wird.

Das Problem ist aber nicht das System und auch nicht die Wenigen, die über die Vielen herrschen. Die Wenigen sind nur deshalb mächtig, weil sie aus den Reihen der Vielen tatkräftig unterstützt werden, und sei es nur durch passives Einverständnis all jener, die die Verhältnisse für korrekt halten, weil ihnen das ja so beigebracht wurde. Auch ein Systemwechsel (wie auch immer der aussehen soll) wird keinen Wandel bringen, das zeigt ein Blick in die Geschichte. Macht korrumpiert, das ist eine Grundregel, die sich immer wieder bestätigt. Wenn diejenigen, die jetzt schwach sind, erst einmal in Machtpositionen gelangen, werden sie mehrheitlich nicht anders handeln als jene, die sie entmachtet haben. Jedes System braucht Verwalter und Organisatoren. Bis jetzt ist es in keinem einzigen System gelungen, diese Posten mit Persönlichkeiten zu besetzen, die uneigennützig handeln. Was zu dem Schluss führt, dass weder das System noch einzelne Personen das Problem sind, sondern der Mensch an sich – was zurückführt zu einem Konflikt, den Trojanow auf den ersten Seiten seines Buches andeutet, nämlich jenen zwischen den Optimisten, die überzeugt sind, dass sich etwas ändern lässt, und den Misanthropen, die dem Mensch diese Form von Veränderung nicht zutrauen.

Die Missverhältnisse zu analysieren und bewusst zu machen ist ungebrochen wichtig, egal welche der beiden Extremhaltungen man vertritt. Der Haken an Büchern wie „Der überflüssige Mensch“ bleibt dennoch, dass sie ohnehin nur jene Leser erreichen, bei denen sie weit offene Türen einrennen. Natürlich ließen sich – in der Theorie – die Missverhältnisse friedlich korrigieren, wenn eine Mehrheit, die über die nötige Bildung verfügt, die Minderheit mit passivem Widerstand – Streik, Boykott, Konsumverzicht etc. - in die Knie zwingt. Doch daran müssten sich alle beteiligen, und das ist illusorisch. Realistisch ist die Prognose, dass die zurückgelassenen, abgeschriebenen Massen früher oder später zur Gewalt greifen und die Eliten mit Gegengewalt antworten werden, es wird ein Blutbad mit ungewissem Ausgang geben, passend zur Kontinuität der bisherigen Menschheitsgeschichte.


Ilija Trojanow „Der überflüssige Mensch“, Unruhe bewahren. Ein Essay zur Würde des Menschen im Spätkapitalismus. 90 S., 16,90 €  9783701716135 Residenz Verlag Wien 2013

Gerrit Wustmann hat zuletzt über weiß von Peggy Neidel auf Fixpoetry geschrieben.



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