weitere Infos zum Beitrag
Das literarische Colloquium Berlin in Wort und Bild
Beim Blättern im Familienalbum. S-Bahn nach Arkadien. (Hg.) Das Literarische Colloquium Berlin
06.09.2013 | Hamburg
Ein bisschen wie beim heimlichen Blättern im Familienalbum entfernter Bekannter fühlt man sich, wenn man da plötzlich Herta Müller Ende der Achtziger Jahre mit raspelkurzen blonden Harren, einer Jeansjacke und einer Menge Ketten um, erst mal gar nicht wiedererkennt. Michael Lentz, den Lautpoeten, in Socken auf einem Tisch stehend deklamieren sieht, und einen unverschämt jungen Daniel Kehlmann, der dazu grinst. Den Dichter Thomas Kling bei einer seiner Performances mit weit aufgerissenen Mund, und Durs Grünbein und Ingo Schulze bei Hüpfspielen mit Kindern beobachtet. Günter Grass, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Oswald Wiener, Ernst Jandl – das gesamte Who is Who der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gibt sich hier ein illustres Stelldichein. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Reihe gewöhnlicher Autorenportraits. Ein sehr naher, familiärer Blick scheint den Schleier hinter dem Literaturbetrieb gelüftet zu haben und seine Akteure in sehr intimen Momenten, zumeist im lebhaften Gespräch mit Kollegen, einzufangen. Man fühlt sich unerlaubt mittendrin.
© Tobias Bohm/LCB
1963 von Walter Höllerer gegründet, ist das Literarische Colloquium Berlin Veranstaltungsforum und Gästehaus, Arbeitsstätte und Talentschmiede für Autoren und Übersetzer sowie Herausgeber der traditionsreichen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Zum 50-jährigen Bestehen des LCB wurden Hunderte von Autoren, die als Stipendiaten, Lesende, Übersetzer oder Workshopteilnehmer Teil der Geschichte dieses Förderzentrums der deutschen und internationalen Literatur sind, gebeten kurze Texte zu einem Wörterbuch des LCB und des Literaturbetriebs einzusenden. Das LCB gab die Lemmata von A wie Ablehnung bis Z wie Zigarette vor und die Autoren von Volker Altwasser bis Feridun Zaimoglu sandten ihre Assoziationen, Erinnerungen und poetischen Interpretationen ein.
18.3.1966 Berlin/West v.l.n.r.: Prof. Dr. Walter Höllerer, Kunstpreis für Literatur, Cornelia Froboess, Fernsehpreis "Junge Generation", Prof. Walter Rossow, Kunstpreis für Baukunst und Gartengestaltung (Source: Bundesarchiv)
Die besten Einsendungen zusammen mit Schwarz-Weiß-Photographien aus 50 Jahren LCB von Renate Mangoldt und Tobias Bohm erschienen jetzt im Matthes und Seitz Verlag. Die Gestaltung und das Konzept übernahm Judith Schalansky.
Herausgekommen ist ein wunderbar leichtes, verspieltes, beredtes, poetisches Dokument deutscher Literaturgeschichte, dass der Villa am Wannsee als einer Sammelstelle und einem Treffpunkt für Kreativität und Künstleraustausch besser gerecht wird, als es jede gewichtige, dickbändige, chronologische Dokumentation je hätte werden können. Über das Stichwortregister am Ende kann man entweder nach Autoren oder Stichwörtern suchen, oder einfach nach Lust und Laune blättern und schmökern. Die Vielzahl der Stimmen und Stile, die man dabei ausmachen kann, ist zugleich auch eine Anthologie, die die Vielfalt und Belebtheit der deutschen Literaturszene belegt.
Die Kleinode finden sich, wie so oft, bei den erst mal scheinbar eher unspektakulären Begriffen, wie z.B. Hund:
Um das LCB schleichen nachts die H. Berlins. Fiktionale Pinscher und geschriebene Zerberusse. Aber auch freundliche Familien., die ein Zuhause suchen. Aber sie können dort nicht leben, im LCB. Dort sind schon die Autoren Berlins und der Welt zu Gast. Ich war dabei und mein Stipendienkollege holte sich einen realen Hund aus dem Tierheim, der domestizieren wollte. Aber dann verschwand das Tier. Als ich nachts in tiefen Stipendienträumen lag, hörte ich ein Winseln. Und ich begriff, dass der Hund zurück war. Dass er das LCB als Heimat ansah und Einlass begehrte. Ich lief runter, um das Tier einzulassen, und dabei biss es mir in den Arm. So eine Wut – über das Herumschleichen und Verlorensein. So eine Verwirrung, die ich bisher nur von mir kannte. Hund, was mag aus dir geworden sein? Hendrik Rost
Zahlreiche Anekdoten der Stipendiaten gewähren einen recht intimen Einblick in das Miteinander der Schriftstellerkollegen, zeugen von den großen und kleinen Nöten des Schriftstellers, wie z.B. dem Umgang mit dem ersten Verriss, dem ungeduldigen Verleger oder Schreibkrisen. Auch Gedichte zu Gott und Schlüsseln und Theaterstücke en miniature haben Eingang in den Band gefunden, dessen Beiträge sich neben der poetischen Qualität oftmals durch einen sehr feinen oder bissigen Humor auszeichnen.
Verdichtung z.B. ist ein Modewort aus Schreibschulen und Textwerkstätten. (…) Das Verfahren der V. ist umweltschonend und zielt auf den Schutz des Regenwaldes durch Verringerung des Papierverbrauchs. Vea Kaiser.
Nebenbei scheint das LCB auch Ort folgenreicher Begegnungen zu sein, wie Lutz Seiler aus dem Nähkästchen plaudert: Die wichtigsten Bücher, besten Freundschaften und wundervollsten Affären sind über die Jahre schönstes Ergebnis einer klugen Übersetzungsförderung. Ab und zu ist auch eine Hochzeit zu vermelden.
Dann bleibt nur noch zu wünschen übrig, dass das LCB noch viele Jahrzehnte lang Schreibkrisen lindern, den Literaturbetrieb bereichern und den Schwellenschlaf (Bezeichnung für Männer oder Frauen, die vor den Türen weiblicher oder männlicher LCB Stipendiaten nächtigen. Ulrike Draesner) fördern wird.
Das Literarische Colloquium Berlin (Hg.): S-Bahn nach Arkadien, Mit bislang unveröffentlichten Fotografien von Renate von Mangoldt, Gestaltung und Konzept: Judith Schalansky, 224 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3882210903. Matthes & Seitz 2013.
Mónika Koncz hat zuletzt über Prachtvolle Mitternacht von Ron Winkler auf Fixpoetry geschrieben.
Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken.