Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Kultur&Gesellschaft, Psychologie, Simone de Beauvoir, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 1. Juni 2009

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Über die großen Frauen

Simone de Beauvoir

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Männer, die wir groß nennen, sind jene, die – auf die eine oder andere Weise – das Gewicht der Welt auf ihre Schultern genommen haben: Sie sind mehr oder weniger damit fertig geworden, es ist ihnen geglückt, sie neu zu schaffen, oder sie sind gescheitert. Aber zunächst haben sie diese ungeheure Last auf sich genommen. Das hat noch keine Frau getan, aber auch noch nicht tun können. Im Mann und nicht in der Frau hat sich bis jetzt der Mensch «an sich» verkörpern können. Die Individuen nun aber, die uns beispielhaft erscheinen, die man mit dem Namen Genie auszeichnet, sind es, die behauptet haben, in ihrer einzelnen Existenz spiele sich das Schicksal der gesamten Menschheit ab. Keine Frau hat sich dazu für berechtigt gehalten. Wie hätte Van Gogh als Frau auf die Welt kommen können? Eine Frau wäre nicht in Mission nach dem nordfranzösischen Kohlenrevier geschickt worden, sie hätte nicht das Elend der Menschen als ihr eigenes Verbrechen empfunden, sie hätte keine Wiedergutmachung gesucht. Sie hätte auch keine Van Goghschen Sonnenblumen gemalt. Eine Frau hätte nie ein Kafka werden können: In ihren Zweifeln und ihrer Unruhe hätte sie nie die Angst des Menschen wiederempfunden, der aus dem Paradies vertrieben worden ist. Eigentlich hat nur die Heilige Therese auf eigene Kosten, in einer völligen Verlassenheit die menschliche Seinsbedingung durchlebt. Da sie sich jenseits der irdischen Hierarchien stellte, fühlte sie ebensowenig wie der Hl. Johannes vom Kreuz ein beruhigendes Dach über ihrem Haupt. Für alle beide war es dieselbe Nacht, dasselbe Aufleuchten des Lichts, dasselbe Nichts des «Ansich», dieselbe Erfüllung in Gott.

Simone-de-Beauvoir

Simone de Beauvoir (1908-1986)

Wenn es so einmal für jedes Menschenwesen möglich sein wird, seinen Stolz jenseits der geschlechtlichen Differenzierung in die schwierige Glorie seiner freien Existenz zu setzen, erst dann wird die Frau ihre Geschichte, ihre Probleme, ihre Zweifel, ihre Hoffnungen mit denen der Menschheit vereinen können. Erst dann wird sie in ihrem Leben wie in ihren Werken versuchen können, die ganze Wirklichkeit und nicht nur ihre Person zu enthüllen. Solange sie noch damit zu kämpfen hat, ein Menschenwesen zu werden, kann sie nicht schöpferisch sein.
Erst kürzlich noch hat das alte Europa die barbarischen Amerikaner mit Verachtung gestraft, die weder Künstler noch Schriftsteller besäßen: «Laßt uns erst existieren, bevor ihr von uns verlangt, daß wir unsere Existenz rechtfertigen», antwortete im wesentlichen Jefferson. Dieselbe Antwort erteilen die Neger den Weißen, die ihnen vorwerfen, sie hätten keinen Whitman und auch keinen Melville hervorgebracht. Das französische Proletariat hat auch keinen Namen, den es einem Rousseau und Mallarmé entgegenstellen könnte. Die freie Frau wird eben erst geboren. Wenn sie sich selbst erobert haben wird, rechtfertigt sie vielleicht die Prophezeiung Rimbeauds: «Die Frau wird das Unbekannte finden! Wird ihre Ideenwelt von unserer verschieden sein? Sie wird seltsame, unergründliche, abstoßende, entzückende Dinge finden, wir werden sie entgegennehmen, sie begreifen.»
Um zu wissen, inwieweit sie eine Sonderheit bleibt, inwieweit ihre Sonderheiten ihre Bedeutung behalten, müßte man recht kühne Voraussagen wagen.
Die Zukunft steht weit offen.

Aus Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Eine Deutung der Frau, Rowohlt Verlag Hamburg 1960

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