Eine Weile hab ich die Kamera kaum aus der Hand gelegt. Selbst wenn ich den Müll rausbrachte, baumelte die Minolta schussbereit um meinen Hals. Hätte ja sein können, dass in dem Moment, wo ich mich der Mülltonne nähere, ein Alien neben mir aufschlägt, mit pummeligem Madonnengesicht, weich geworden von der langen Überfahrt.
Sicher sechzig Fotoalben sind aus dieser Zeit zwischen 2001 und 2005 übrig. Das Aussuchen und Einkleben der Bilder hatte etwas Kontemplatives, wie ausgeschaltet hab ich viele Stunden damit zugebracht, Fotos zu arrangieren, Brüche einzuziehen, Untertitel auszuhecken.
Noch heute stapeln und türmen sich die Fotoalben auf meiner Kommode, eine wacklige Angelegenheit, bei der das Gleichgewicht schon mal verloren geht, ohne besonderen Anlass, dann macht es Rawumm! und der Hund springt erschrocken davon und der Fußboden ist übersät mit lauter Vergangenheit.
Einzelne Bilder greife ich vom Boden und schaue sie mir genauer an. Da ist dieses Foto vom Jonathan Richman-Konzert im Oktober 2001 im Zakk in Düsseldorf, wo zwei Männer selbstvergessen in der ersten Reihe tanzen, den Gürtel gelockert, vom Bühnenlicht gestreift. Zwei Männer in den Dreissigern, Vermessungsingenieure, die sich einen schönen Hippieabend machen.
“Es sind immer die gleichen Typen, die auf Jonathan stehen”, meinte die Gräfin einmal zu dieser Live-Aufnahme.
(Ich bin ein verdammter Vermessungsingenieur. Ich wusste es!)
Ein anderes Bild ist aus dem Album von Juli 2003 gerutscht. Ein Urlaubsfoto. Eine Strandaufnahme. Im Hintergrund ein Mann, der einen Drachen steigen lässt, Marke Windsbraut, die wie rostige alte VW-Käfermotoren knattern, wenn sie den Himmel abkurven. Genau in dem Moment, wo ich damals auf den Auslöser drückte, (im Vordergrund: Frau Moll im Sand, streng wie eine Gouvernante), blickte der Mann in meine Kamera. Und so sieht man bis heute den erstaunten Ausdruck in seinem Gesicht, in meinem Fotoalbum, auf diesem Urlaubsfoto, Zeeland, Sommer 2003.
Was der Knabe wohl heute so treibt. Und wie die beiden Typen vom Jonathan-Konzert aussehen, zehn Jahre später. Ob sie ihren Job noch haben? Und auf wieviel Bildern in wieviel Fotoalben ich eigentlich im Hintergrund stehe und nichts davon weiss. In wieviel fremden Wohnzimmerschränken ich eingekerkert im Fotoalbum existiere, irgendwo auf der Welt, unbeachtet und zugeklappt, jahrelang dem Gilb ausgesetzt, dem Stubenstaub, und nur selten aus dem Regal gezogen und beim Durchblättern mit knappen Blick bedacht.
Seltsamer Gedanke. Wir existieren alle in fremden Wohnzimmern zwischen 64 Seiten starken Sammelmappen und Fotobüchern und haben keinen blassen Schimmer davon. Wir verstauben im Hintergrund von Fotografien, von denen wir vergessen haben, dass sie je gemacht wurden, wir sind ahnungslos verstaubende Personen, weltweit inkognito publiziert.
Schlagwörter: Fotoalbum
27. November 2012 um 1:11 nachmittags |
fotografieren heißt die sterblichkeit inventarisieren.
(susan sontag)
und schön ist die vorstellung, auf unzähligen fotos einen gastauftritt im background zu haben, aber auch beklemmend: denn ich lebe unwiderruflich meiner vernichtung entgegen, wohingegen das foto mich in einem bestimmten moment einfriert, dem altern in der zeit – scheinbar – entrückt. aber auch das ist illuion: nichts bleibt. auch fotos werden irgendwann einmal abfall.
dein text hoffentlich nicht, denn er ist wunderbar und wie immer sehr gelungen. gruß, uwe
27. November 2012 um 8:30 nachmittags |
Sehr schön beschriebene Befindlichkeit zum Thema Fotografie und Endlichkeit.
Gruss
Jens
27. November 2012 um 9:58 nachmittags |
vielleicht, so gehts mir durch die sinne, vielleicht sind wir deshalb so verzettelt und hier und dort und überall, statt einfach nur “bei uns selbst”?
gedanken (dein blog), die ich mir noch total nie überlegt habe. also, dass ich überhaupt auf andern ihren bildern draufsein könnte.
28. November 2012 um 11:34 vormittags |
Und ich bekam gestern Bilder zugeschickt auf dem Nazis mit Palästinsenstücher um den Hals, und ein anderer Nazi mit Kippa auf dem Kopf zu sehen ist, und eigentlich sind das alles Ungarn.
28. November 2012 um 12:06 nachmittags |
dein beitrag hat mich sehr nachdenklich gemacht…..
unendlich – endlich…. oder auch nicht!
eigentlich sehr unheimlich….
lg aus wien
29. November 2012 um 4:18 nachmittags |
wenn ich mal zufällig aufs bild gerate, häng ich meistens an der wand….fest….oder ein steckbrief in der bild..höhö!
10. Dezember 2012 um 8:14 vormittags |
[...] Seltsamer Gedanke. Wir existieren alle in fremden Wohnzimmern zwischen 64 Seiten starken Sammelmappen und Fotobüchern und haben keinen blassen Schimmer davon. Wir verstauben im Hintergrund von Fotografien, von denen wir vergessen haben, dass sie je gemacht wurden, wir sind ahnungslos verstaubende Personen, weltweit inkognito publiziert. aus: Backdoor Man [...]