Plötzlich war Mutter tot. Diese rätselhafte stolze Frau, die es gern schlicht hatte und von der die Gräfin einst sagte, sie sei Igel und Hase zugleich: wehrhaft, und doch ständig auf der Flucht.
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Je mehr sie an Gewicht verlor, desto schwerer wog ihre Seele. Zum Schluss wurde sie so still, sie beteiligte sich kaum noch an der Unterhaltung. Wo sie doch sonst so gern geschnattert hatte, das Kinn vorgestreckt wie ein Vögelchen den Schnabel: “Ja, du wirst verrückt!” sagte sie gern, wenn man ihr etwas anvertraute. Du wirst verrückt im Sinne von Ja, das gibts doch nicht!
Was gibt es schöneres, als sich etwas anzuvertrauen.
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Dass sie es sehr genau genommen hätte, kann man nicht sagen, das verbot schon ihr halbitalienisches Blut, (als eine geborene Lesizza, aus dem Friaul ins Bergische Land ausgewandert), aber sie hatte ein waches, umherflitzendes Auge, das eine Menge Dinge wahrnahm. So bemerkte sie während eines Friedhofbesuchs, dass auf dem Grabstein eines Anverwandten ein Buchstabe fehlte, mitten im langen Nachnamen. Ein Lapsus, der weder dem Steinmetz noch nahen Angehörigen aufgefallen war, obwohl der Stein schon eine Weile gestanden hatte. Daraufhin musste die Schrift komplett erneuert werden. Das fand nicht jeder gut.
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Es war ein Ritual geworden. Beim Verlassen des Krankenzimmers blieb ich stets in der Tür stehen, drehte mich kurz um und warf ihr einen Handkuss zu, eine Geste, die sie mit einem Lächeln erwiderte. Keine große Sache, doch es sind stets die kleinen Sachen zwischen zwei Menschen.
Fast zwei Jahre nach ihrem Tod liege ich nachts im Bett, gerade wach geworden, und boxe in die Matratze: Warum zum Teufel hab ich mich ausgerechnet an diesem letzten Tag im Krankenhaus NICHT zu ihr umgedreht!? Warum hab ich diese allerletzte Chance verschenkt? Was hat mich damals geritten? Ich dreh mich um, und schlafe weiter.
Tief, wie in Zement eingelegt.
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Die letzten Jahre schlief sie alleine im Ehebett im Interlübke-Einbau-Schlafzimmer, während Vater ins große Wohnzimmer auswich, weil er so laut schnarchte und sie nachts oft raus musste. Das Schlafzimmer in seinem ganz in weiss gehaltenen Mobiliar strahlte eine Nüchternheit aus, die mich manchmal sprachlos machte, wenn ich es betrat oder nur einen kurzen Blick hineinwarf.
Keine Frage. Mutter war zuletzt so geschwächt, wäre sie nicht während der Reha-Maßnahme im Krankenhaus an einem Herzinfarkt gestorben, dieses weisse Zimmer wäre ihre letzte ständige Residenz geworden, die sie nicht mehr verlassen hätte. Sie wäre eine unglückliche bettlägerige alte Interlübke-Hexe geworden, doch Gott hat dem vorgebaut. So gesehen.
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Eine Woche nach ihrem Tod trug ich abends 37 eingetütete Trauerbriefe zur Hauptpost, zur Nachtleerung, und jeder Brief bekam vorm Einwerfen ein Küsschen.
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Beim Begräbnis sprachen mir zum ersten Mal im Leben Menschen ihr Beileid und Mitgefühl aus, und komischerweise tat es gut.
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Auch wenn es nachlässt, noch immer gibt es Momente, wo mir jäh die Tränen hochkochen, ganz plötzlich und unerwartet, wo mir alles unendlich leid tut, wo ich immer noch damit hadere, wie das Leben ist, wie es ist, dass es nämlich dazu neigt, aufzuhören.
Dass der Tod ein vom Amtswegen durchgeschnittener Personalausweis ist, ungültig gemacht, entwertet wie ein Ticket, und auf dem Postweg an den Witwer versandt.
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Im Fernsehen verfolgte ich einen Nachtfilm. Eine Figur meinte: “Jeder hat doch eine Mutter!”
“Ich nicht!” zürnte ich dem Fernseher.
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Sie starb an einem Montag, und ich fragte mich, wie lange wohl ihr Schatten fortan auf jedem neuen Montag liegen wird. Nun, nach zwei Jahren, weiss ich es.
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Das letzte Mal, als es ihr noch gut ging, orderte sie beim Pfleger in Bethanien vier Tassen Kaffee, mit diesem lässigen Fingerschnippen, lässig wie ein Pokerspieler, der ein bravouröses Turnier spielt und sich nun großzügig zeigt.
Vier große Tassen Kaffee, vom indischen Pfleger lächelnd serviert, und ein letztes Mal saßen wir am Fenster und blickten hinaus in den Park, der Winter hielt Einzug, und du warst so sanft und warm und still, ich glaube, an dem Abend hast du Abschied genommen von uns und wir alle haben es verpasst, haben nicht richtig hingehört.
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Einer ihrer letzten Sätze, geflüstert in mein Ohr: “Pass auf, dass Papa keinen Blödsinn macht.”
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Die Nachricht vom Tod eines lieben Menschen zu erhalten, das ist, als würdest du bei voller Fahrt den Kopf aus dem Zugfenster stecken und gegen einen Mast knallen.
Es köpft dein Leben.
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Sie starb in der 351. Nacht des Jahres, der Raunacht.
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Abgesehen von diesem schlichten Testament (“ich vererbe hiermit alles an meinen Ehemann”) und der Absprache, nach der sich sowohl Mutter als auch Vater Ave Maria bei der Trauerfeier wünschen, haben meine Eltern wenig über den Tod gesprochen.
(“Was ist intimer als die Sprache unter Eheleuten”, sagt die Gräfin dazu.)
Und: “Deine Eltern sind sehr kindlich geblieben bis ins hohe Alter.”
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Das allerletzte Mal, dass wir sie sahen, zwei Tage vor ihrem Tod, war Heiligabend. Wir besuchten sie in der Klinik. Sie scherzte, dass sie ja schon deswegen gesund werden müsse, um endlich bei Aktion Mensch abzusahnen, wo sie ein Dauerlos hatte.
“Eine Million”, wünschte sie sich.
“Und dann?” fragte ich, “was machst du mit der Million?”, obwohl ich genau wusste, was kommen würde, aber ich wollte es hören.
“Dann nehm ich euch alle mit.”
“Wohin?”
Sie zwinkerte.
“Weg hier.”
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11:49 wurde als Todeszeitpunkt auf der Sterbeurkunde angegeben, die man Mutter auf dem Totenbett aufs Laken gelegt hatte, in Höhe der Fußknöchel – eine Uhrzeit, die nicht den Tatsachen entsprechen konnte, da mich bereits Punkt 11:30 der Anruf einer Intensivschwester erreichte, ich möchte bitte umgehend zurückrufen.
Das Zimmer des Abschieds auf der Intensivstation. Sie lag mit dem Kopf zum Fenster, in der Schneise, in der das dämmrige Licht einfiel an diesem Dezemberabend, und ich bewunderte diesen prächtigen, beinah dem Hinduismus huldigenden Leberfleck auf ihrer Stirn, der immer prächtiger geworden war, je mehr sie abmagerte.
Ihr blasses wächsernes Antlitz, die spitze Nase, wie Toblerone.
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Man sagt, dass man erst dann erwachsen wird, wenn beide Eltern tot sind. Nun ist Mutter am 27. Dezember (Dritten Weihnachten!) zwei Jahre unter der Erde, sie verfault, wo der Wurm seine Werkbank hat, doch Vater bietet dem Wurm Paroli, er ist noch da, sein altes Herz schlägt, und solange es schlägt, bleibe ich ein halbes Balg.
Schlag weiter, altes Vaterherz – schlag!
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Auch wenn sie für Aussenstehende eine richtige Oma geworden war, klein und hutzelig, der Hals eine faltige Manschette, sie war noch in der Welt. Auch wenn sie Stück für Stück aus diesem Leben verschwand und zum Schluss kaum mehr fünfzig Kilogramm wog, (die zehn Kilo, die sie vorübergehend im Krankenhaus zugelegt hatte, waren im Gewebe angesammeltes Wasser, weil das Herz nicht mehr richtig pumpte), sie war noch in der Welt. Auch wenn ihre Stimme oft schwach war und ins Schlingern geriet, sie war noch in der Welt und wir hörten ihr Wort, ein leises Ende, bevor sie ein letztes Mal den Telefonhörer auflegte.
Montag, 27. Dezember.
Gegen halb elf komme ich mit dem Bus aus Gräfrath und kaufe beim Bäcker Semmel und Brötchen zum Einfrieren, wie jeden Montag. Weiter zum Supermarkt auf der Wupperstrasse, für ein paar Kleinigkeiten.
Als ich den Kannenhof runtergehe, bepackt mit zwei Tragetaschen, ist es kurz vor elf, und meine Mutter kämpft zehn Kilometer entfernt mit dem Tod. In der Lukas-Klinik, wo sie wegen eines komplizierten Beinbruchs zur Reha liegt, erleidet sie kurz hintereinander zwei Herzinfarkte, den ersten während der Arzt-Visite. Im Bett liegend läuft sie blau an, sie stöhnt und röchelt schwer, verliert das Bewusstsein. Da Arzt und Schwestern im Zimmer sind, wird sie sofort reanimiert, schneller ist Erste Hilfe nicht möglich. Sie wird auf die Intensivstation gebracht, wo sie bald darauf, so die Ärztin fassungslos, von einem weiteren “Rieseninfarkt” ereilt wird.
“Sie ist uns unter den Händen weggestorben..”
Zur gleichen Zeit gehe ich den steilen Kannenhof runter, der noch nicht von Schnee und Eis geräumt ist, und da steht dieser PkW halb auf dem Gehweg. Überall ist es eng, wegen der vielen Schneehaufen, freie Parkflächen sind rar. Die Beifahrertür des Wagens steht offen und ragt weit auf den Bürgersteig, stört, ohne dass der Mann im Wagen etwas davon bemerken würde, er ist am Handschuhfach beschäftigt.
Ich schlängele mich seitlich an der Autotür vorbei, bleibe dabei mit dem Innenfutter meiner offenen Jacke hängen. Ich bin noch erhitzt vom Einkaufen und hab den Reißverschluss aufgemacht. Für einen winzigen Moment steht meine Jacke nun weit offen, wie ein einzelner Flügelschlag. Es ist, als präsentierte ich der verschneiten Welt mein Herz, groß und verwundbar, für diesen winzigen einen Moment.
Im Weitergehen, nachdem ich die Jacke von der Autotüre befreit habe, denk ich noch so für mich, “Himmel, was war das denn jetzt..? Das ist ja noch nie passiert”, und lächle dem Fahrer blöde zu, der seinen Fauxpas mit der Wagentür mittlerweile bemerkt hat und mir entschuldigend zunickt.
In diesem Moment ist Mutter gegangen.
Schlagwörter: Ave Maria, ganz in weiss, Interlübke, Jonathan Richman, Kondolenz am Grab, Lesizza aus dem Friaul, Mutter, Tod
6. Dezember 2012 um 4:40 nachmittags |
Sehr schön und anrührend geschrieben, Sie halbes Balg, Sie.
Danke für’s Teilhaben lassen.
6. Dezember 2012 um 5:27 nachmittags |
Ja, so ist das. Meine Eltern sind auch in einem Alter, wo der Tod nicht mehr unerwartet kommen wird. Aber vorstellen kann ich es mir nicht, dass sie nicht mehr da sein sollen.
Meine Freundin Heide sagt, bei der Beisetzung ihres Vaters: Nun bin ich ein 65jähriges Waisenkind.
Dieser Satz hat mir die Tränen in die Augen getrieben.
6. Dezember 2012 um 5:29 nachmittags |
traurig schön, dieses prosa-medaillon, dieses gedenkstück.
wie eine verneigung vor deiner mutter liest sich das.
und dazu der passgenaue song, der mich sehr rührte.
gruß, uwe
6. Dezember 2012 um 6:03 nachmittags |
Großartig, ergreifend, bestürzend!
7. Dezember 2012 um 8:47 vormittags |
Grossatige Zeilen, tolles Lied.
In Zuneigung,
lava.
(Auch wenn es nachlässt, noch immer gibt es Momente, wo mir jäh die Tränen hochkochen, ganz plötzlich und unerwartet, wo mir alles unendlich leid tut, wo ich immer noch damit hadere, wie das Leben ist, wie es ist, dass es nämlich dazu neigt, aufzuhören.)
Ach, Mann..
7. Dezember 2012 um 10:10 nachmittags |
es ist seltsam. heute vor 2 jahren habe ich meinen vater das letzte mal … sprechend und am leben gesehen… und komme zufällig hierher. jetzt fühle ich mich mehr ganz so einsam. das ist gut.
8. Dezember 2012 um 6:34 nachmittags |
es gab nicht viel ,wir hatten ja nix und kinder waren keine gespenster eher kleine scheisser und augendiebe..mit rosa plüsch..und süss.
8. Dezember 2012 um 6:52 nachmittags |
der indische pfleger darf mal vorbeikommen..
ob er dann noch grient..höhö
9. Dezember 2012 um 10:37 nachmittags |
Sowas kann nur 500!
Sehr, sehr groß!
9. Dezember 2012 um 11:36 nachmittags |
Danke Glumm …
10. Dezember 2012 um 5:12 vormittags |
[...] über seine Eltern. Ich empfehle nach dem Text eine kräftige Brühe und einen Schnaps. Daher vielleicht doch [...]
10. Dezember 2012 um 1:53 nachmittags |
Wunderbar geschrieben, leider muss ih Ihnen sagen, dass es auch nach 10 Jahren noch Momente gibt, die mir die Tränen in die Augen treiben.
Und Momente, wo ich plötzlich denke, ah, Mama anrufen, das muss ich ihr erzählen..äh..mist…
Jeden Tag denke ich an meine Eltern, obwohl ich so gut wie nie auf den Friedhof gehe, sind sie in mir da, manchmal rede ich in Gedanken mit ihnen, denn man kann sich immer noch vorstellen, was sie sagen würden. Damit findet man einen Weg, nicht immer nur traurig zu sein, wenn man an sie denkt.
10. Dezember 2012 um 1:57 nachmittags |
eine wunderbare liebeserklärung an einen geliebten menschen.
(auf das erwachsenwerden warten ich allerdings noch immer, obwohl beide eltern schon vor bald 12 jahren gestorben sind.)
10. Dezember 2012 um 2:36 nachmittags |
Zum Heulen gut!
11. Dezember 2012 um 11:32 nachmittags |
[...] As my mother lay dying « Glumm. [...]
12. Dezember 2012 um 8:51 vormittags |
die inge verstarb neunundneunzig,fünf tage nach ihrem geburtstag,fast ne runde sache.1979 war sie noch am singen
schön gruss
12. Dezember 2012 um 1:18 nachmittags |
müm is tod.mit sechundfuffzig
12. Dezember 2012 um 2:37 nachmittags |
hab ich auch gehört. kannte ihn aber kaum.
12. Dezember 2012 um 3:37 nachmittags |
die büroluft.
18. Dezember 2012 um 7:32 nachmittags |
gabs bei euch auch manchmal prügelei am weihnachten?